Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Iphigenie auf Tauris Es mangelte dem Glück der Eltern nochEin Sohn, und kaum war dieser Wunsch erfüllt, Daß zwischen beyden Schwestern nun Orest Der Liebling wuchs; als neues Übel schon Dem sichern Hause zubereitet war. Der Ruf des Krieges ist zu euch gekommen, Der, um den Raub der schönsten Frau zu rächen, Die ganze Macht der Fürsten Griechenlands Um Trojens Mauern lagerte. Ob sie Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte Der Griechen Heer. In Aulis harrten sie Auf günst'gen Wind vergebens: denn Diane, Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt Die Eilenden zurück und forderte Durch Kalchas Mund des Königs ältste Tochter. Sie lockten mit der Mutter mich in's Lager; Sie rissen mich vor den Altar und weihten Der Göttinn dieses Haupt. -- Sie war versöhnt; Sie wollte nicht mein Blut, und hüllte rettend In eine Wolke mich; in diesem Tempel Erkannt' ich mich zuerst vom Tode wieder. Ich bin es selbst, bin Iphigenie, Iphigenie auf Tauris Es mangelte dem Glück der Eltern nochEin Sohn, und kaum war dieſer Wunſch erfüllt, Daß zwiſchen beyden Schweſtern nun Oreſt Der Liebling wuchs; als neues Übel ſchon Dem ſichern Hauſe zubereitet war. Der Ruf des Krieges iſt zu euch gekommen, Der, um den Raub der ſchönſten Frau zu rächen, Die ganze Macht der Fürſten Griechenlands Um Trojens Mauern lagerte. Ob ſie Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte Der Griechen Heer. In Aulis harrten ſie Auf günſt’gen Wind vergebens: denn Diane, Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt Die Eilenden zurück und forderte Durch Kalchas Mund des Königs ältſte Tochter. Sie lockten mit der Mutter mich in’s Lager; Sie riſſen mich vor den Altar und weihten Der Göttinn dieſes Haupt. — Sie war verſöhnt; Sie wollte nicht mein Blut, und hüllte rettend In eine Wolke mich; in dieſem Tempel Erkannt’ ich mich zuerſt vom Tode wieder. Ich bin es ſelbſt, bin Iphigenie, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#IPH"> <p><pb facs="#f0035" n="26"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Iphigenie auf Tauris</hi></fw><lb/> Es mangelte dem Glück der Eltern noch<lb/> Ein Sohn, und kaum war dieſer Wunſch erfüllt,<lb/> Daß zwiſchen beyden Schweſtern nun Oreſt<lb/> Der Liebling wuchs; als neues Übel ſchon<lb/> Dem ſichern Hauſe zubereitet war.<lb/> Der Ruf des Krieges iſt zu euch gekommen,<lb/> Der, um den Raub der ſchönſten Frau zu rächen,<lb/> Die ganze Macht der Fürſten Griechenlands<lb/> Um Trojens Mauern lagerte. Ob ſie<lb/> Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel<lb/> Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte<lb/> Der Griechen Heer. In Aulis harrten ſie<lb/> Auf günſt’gen Wind vergebens: denn Diane,<lb/> Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt<lb/> Die Eilenden zurück und forderte<lb/> Durch Kalchas Mund des Königs ältſte Tochter.<lb/> Sie lockten mit der Mutter mich in’s Lager;<lb/> Sie riſſen mich vor den Altar und weihten<lb/> Der Göttinn dieſes Haupt. — Sie war verſöhnt;<lb/> Sie wollte nicht mein Blut, und hüllte rettend<lb/> In eine Wolke mich; in dieſem Tempel<lb/> Erkannt’ ich mich zuerſt vom Tode wieder.<lb/> Ich bin es ſelbſt, bin Iphigenie,<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0035]
Iphigenie auf Tauris
Es mangelte dem Glück der Eltern noch
Ein Sohn, und kaum war dieſer Wunſch erfüllt,
Daß zwiſchen beyden Schweſtern nun Oreſt
Der Liebling wuchs; als neues Übel ſchon
Dem ſichern Hauſe zubereitet war.
Der Ruf des Krieges iſt zu euch gekommen,
Der, um den Raub der ſchönſten Frau zu rächen,
Die ganze Macht der Fürſten Griechenlands
Um Trojens Mauern lagerte. Ob ſie
Die Stadt gewonnen, ihrer Rache Ziel
Erreicht, vernahm ich nicht. Mein Vater führte
Der Griechen Heer. In Aulis harrten ſie
Auf günſt’gen Wind vergebens: denn Diane,
Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt
Die Eilenden zurück und forderte
Durch Kalchas Mund des Königs ältſte Tochter.
Sie lockten mit der Mutter mich in’s Lager;
Sie riſſen mich vor den Altar und weihten
Der Göttinn dieſes Haupt. — Sie war verſöhnt;
Sie wollte nicht mein Blut, und hüllte rettend
In eine Wolke mich; in dieſem Tempel
Erkannt’ ich mich zuerſt vom Tode wieder.
Ich bin es ſelbſt, bin Iphigenie,
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787/35>, abgerufen am 07.07.2024. |