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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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dadurch selbst Wohlwollenden fast lästig und verdrießlich
fiel. Aber ich konnte nur bemerken, daß die lebenden
Künstler bloß aus schwankenden Ueberliefecungen und
einem gewissen Impuls handelten, daß Helldunkel, Co-
lorit, Harmonie der Farben immer in einem wunderli-
chen Kreise sich durcheinander drehten. Keins entwi-
ckelte sich aus dem andern, keins griff nothwendig ein
in das andere. Was man ausübte, sprach man als
technischen Kunstgriff, nicht als Grundsatz aus. Ich
hörte zwar von kalten und warmen Farben, von Far-
ben die einander heben, und was dergleichen mehr war;
allein bey jeder Ausführung konnte ich bemerken, daß
man in einem sehr engen Kreise wandelte, ohne doch
denselben überschauen oder beherrschen zu können.

Das Sulzerische Wörterbuch wurde um Rath ge-
fragt, aber auch da fand sich wenig Heil. Ich dachte
selbst über die Sache nach, und um das Gespräch zu
beleben, um eine oft durchgedroschene Materie wieder
bedeutend zu machen, unterhielt ich mich und die
Freunde mit Paradoxen. Ich hatte die Ohnmacht des
Blauen sehr deutlich empfunden, und seine unmittel-
bare Verwandtschaft mit dem Schwarzen bemerkt; nun
gefiel es mir zu behaupten: das Blaue sey keine Farbe!
und ich freute mich eines allgemeinen Widerspruchs.
Nur Angelika, deren Freundschaft und Freundlichkeit
mir schon öfters in solchen Fällen entgegen gekommen
war -- sie hatte z. B. auf mein Ersuchen erst ein Bild,
nach Art älterer Florentiner, Grau in Grau gemalt
und es bey völlig entschiedenem und fertigen Helldunkel

dadurch ſelbſt Wohlwollenden faſt laͤſtig und verdrießlich
fiel. Aber ich konnte nur bemerken, daß die lebenden
Kuͤnſtler bloß aus ſchwankenden Ueberliefecungen und
einem gewiſſen Impuls handelten, daß Helldunkel, Co-
lorit, Harmonie der Farben immer in einem wunderli-
chen Kreiſe ſich durcheinander drehten. Keins entwi-
ckelte ſich aus dem andern, keins griff nothwendig ein
in das andere. Was man ausuͤbte, ſprach man als
techniſchen Kunſtgriff, nicht als Grundſatz aus. Ich
hoͤrte zwar von kalten und warmen Farben, von Far-
ben die einander heben, und was dergleichen mehr war;
allein bey jeder Ausfuͤhrung konnte ich bemerken, daß
man in einem ſehr engen Kreiſe wandelte, ohne doch
denſelben uͤberſchauen oder beherrſchen zu koͤnnen.

Das Sulzeriſche Woͤrterbuch wurde um Rath ge-
fragt, aber auch da fand ſich wenig Heil. Ich dachte
ſelbſt uͤber die Sache nach, und um das Geſpraͤch zu
beleben, um eine oft durchgedroſchene Materie wieder
bedeutend zu machen, unterhielt ich mich und die
Freunde mit Paradoxen. Ich hatte die Ohnmacht des
Blauen ſehr deutlich empfunden, und ſeine unmittel-
bare Verwandtſchaft mit dem Schwarzen bemerkt; nun
gefiel es mir zu behaupten: das Blaue ſey keine Farbe!
und ich freute mich eines allgemeinen Widerſpruchs.
Nur Angelika, deren Freundſchaft und Freundlichkeit
mir ſchon oͤfters in ſolchen Faͤllen entgegen gekommen
war — ſie hatte z. B. auf mein Erſuchen erſt ein Bild,
nach Art aͤlterer Florentiner, Grau in Grau gemalt
und es bey voͤllig entſchiedenem und fertigen Helldunkel

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[672/0706] dadurch ſelbſt Wohlwollenden faſt laͤſtig und verdrießlich fiel. Aber ich konnte nur bemerken, daß die lebenden Kuͤnſtler bloß aus ſchwankenden Ueberliefecungen und einem gewiſſen Impuls handelten, daß Helldunkel, Co- lorit, Harmonie der Farben immer in einem wunderli- chen Kreiſe ſich durcheinander drehten. Keins entwi- ckelte ſich aus dem andern, keins griff nothwendig ein in das andere. Was man ausuͤbte, ſprach man als techniſchen Kunſtgriff, nicht als Grundſatz aus. Ich hoͤrte zwar von kalten und warmen Farben, von Far- ben die einander heben, und was dergleichen mehr war; allein bey jeder Ausfuͤhrung konnte ich bemerken, daß man in einem ſehr engen Kreiſe wandelte, ohne doch denſelben uͤberſchauen oder beherrſchen zu koͤnnen. Das Sulzeriſche Woͤrterbuch wurde um Rath ge- fragt, aber auch da fand ſich wenig Heil. Ich dachte ſelbſt uͤber die Sache nach, und um das Geſpraͤch zu beleben, um eine oft durchgedroſchene Materie wieder bedeutend zu machen, unterhielt ich mich und die Freunde mit Paradoxen. Ich hatte die Ohnmacht des Blauen ſehr deutlich empfunden, und ſeine unmittel- bare Verwandtſchaft mit dem Schwarzen bemerkt; nun gefiel es mir zu behaupten: das Blaue ſey keine Farbe! und ich freute mich eines allgemeinen Widerſpruchs. Nur Angelika, deren Freundſchaft und Freundlichkeit mir ſchon oͤfters in ſolchen Faͤllen entgegen gekommen war — ſie hatte z. B. auf mein Erſuchen erſt ein Bild, nach Art aͤlterer Florentiner, Grau in Grau gemalt und es bey voͤllig entſchiedenem und fertigen Helldunkel

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/706>, abgerufen am 22.11.2024.