verdienst kein Urtheil an, und gestehen gern zu, daß sein eigentliches Talent außer unserm Gesichtskreise liegt; aber, wenn wir aus eigener Ueberzeugung sagen können: das von seinen Vorfahren Geleistete ergriff er mit Bequemlichkeit und führte es bis zum Erstaunen weiter; die mittleren Köpfe seiner Zeit ehrten und verehrten ihn, die besten erkannten ihn für ihres Glei- chen, oder geriethen gar, wegen bedeutender Erfindun- gen und Entdeckungen, mit ihm in Contestation: so dürfen wir ihn wohl, ohne näheren Beweis, mit der übrigen Welt für einen außerordentlichen Mann erklären.
Von der praktischen, von der Erfahrungsseite rückt er uns dagegen schon näher. Hier tritt er in eine Welt ein, die wir auch kennen, in der wir seine Ver- fahrungsart und seinen Succeß zu beurtheilen vermö- gen, um so mehr, als es überhaupt eine unbestrittne Wahrheit ist, daß so rein und sicher die Mathematik in sich selbst behandelt werden kann, sie doch auf dem Erfahrungsboden sogleich bey jedem Schritte periclitirt und eben so gut, wie jede andere ausgeübte Maxime, zum Irrthum verleiten, ja den Irrthum ungeheuer ma- chen und sich künftige Beschämungen vorbereiten kann.
Wie Newton zu seiner Lehre gelangt, wie er sich bey ihrer ersten Prüfung übereilt, haben wir umständ- lich oben auseinandergesetzt. Er baut seine Theorie sodann consequent auf, ja er sucht seine Erklärungsart als ein Factum geltend zu machen; er entfernt alles
verdienſt kein Urtheil an, und geſtehen gern zu, daß ſein eigentliches Talent außer unſerm Geſichtskreiſe liegt; aber, wenn wir aus eigener Ueberzeugung ſagen koͤnnen: das von ſeinen Vorfahren Geleiſtete ergriff er mit Bequemlichkeit und fuͤhrte es bis zum Erſtaunen weiter; die mittleren Koͤpfe ſeiner Zeit ehrten und verehrten ihn, die beſten erkannten ihn fuͤr ihres Glei- chen, oder geriethen gar, wegen bedeutender Erfindun- gen und Entdeckungen, mit ihm in Conteſtation: ſo duͤrfen wir ihn wohl, ohne naͤheren Beweis, mit der uͤbrigen Welt fuͤr einen außerordentlichen Mann erklaͤren.
Von der praktiſchen, von der Erfahrungsſeite ruͤckt er uns dagegen ſchon naͤher. Hier tritt er in eine Welt ein, die wir auch kennen, in der wir ſeine Ver- fahrungsart und ſeinen Succeß zu beurtheilen vermoͤ- gen, um ſo mehr, als es uͤberhaupt eine unbeſtrittne Wahrheit iſt, daß ſo rein und ſicher die Mathematik in ſich ſelbſt behandelt werden kann, ſie doch auf dem Erfahrungsboden ſogleich bey jedem Schritte periclitirt und eben ſo gut, wie jede andere ausgeuͤbte Maxime, zum Irrthum verleiten, ja den Irrthum ungeheuer ma- chen und ſich kuͤnftige Beſchaͤmungen vorbereiten kann.
Wie Newton zu ſeiner Lehre gelangt, wie er ſich bey ihrer erſten Pruͤfung uͤbereilt, haben wir umſtaͤnd- lich oben auseinandergeſetzt. Er baut ſeine Theorie ſodann conſequent auf, ja er ſucht ſeine Erklaͤrungsart als ein Factum geltend zu machen; er entfernt alles
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[476/0510]
verdienſt kein Urtheil an, und geſtehen gern zu, daß
ſein eigentliches Talent außer unſerm Geſichtskreiſe
liegt; aber, wenn wir aus eigener Ueberzeugung ſagen
koͤnnen: das von ſeinen Vorfahren Geleiſtete ergriff er
mit Bequemlichkeit und fuͤhrte es bis zum Erſtaunen
weiter; die mittleren Koͤpfe ſeiner Zeit ehrten und
verehrten ihn, die beſten erkannten ihn fuͤr ihres Glei-
chen, oder geriethen gar, wegen bedeutender Erfindun-
gen und Entdeckungen, mit ihm in Conteſtation: ſo
duͤrfen wir ihn wohl, ohne naͤheren Beweis, mit der
uͤbrigen Welt fuͤr einen außerordentlichen Mann
erklaͤren.
Von der praktiſchen, von der Erfahrungsſeite ruͤckt
er uns dagegen ſchon naͤher. Hier tritt er in eine
Welt ein, die wir auch kennen, in der wir ſeine Ver-
fahrungsart und ſeinen Succeß zu beurtheilen vermoͤ-
gen, um ſo mehr, als es uͤberhaupt eine unbeſtrittne
Wahrheit iſt, daß ſo rein und ſicher die Mathematik
in ſich ſelbſt behandelt werden kann, ſie doch auf dem
Erfahrungsboden ſogleich bey jedem Schritte periclitirt
und eben ſo gut, wie jede andere ausgeuͤbte Maxime,
zum Irrthum verleiten, ja den Irrthum ungeheuer ma-
chen und ſich kuͤnftige Beſchaͤmungen vorbereiten kann.
Wie Newton zu ſeiner Lehre gelangt, wie er ſich
bey ihrer erſten Pruͤfung uͤbereilt, haben wir umſtaͤnd-
lich oben auseinandergeſetzt. Er baut ſeine Theorie
ſodann conſequent auf, ja er ſucht ſeine Erklaͤrungsart
als ein Factum geltend zu machen; er entfernt alles
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/510>, abgerufen am 22.11.2024.
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