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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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ßigen Bildung erheben; es blieb immer etwas Wildes
und Verworrenes in seinen Studien, seinem Charakter
und ganzen Wesen zurück. Man mag übrigens an
ihm noch so vieles Tadelnswerthe finden, so muß er
doch des großen Lobes theilhaft werden, daß es ihm
sowohl um die äußern Dinge, als um sich selbst Ernst
und zwar recht bitterer Ernst gewesen, weshalb denn
auch seine Behandlung sowohl der Gegenstände als des
Lebens bis an sein Ende leidenschaftlich und heftig war. Er
kannte sein eigenes Naturell bis auf einen gewissen Grad,
doch konnte er bis ins höchste Alter nicht darüber Herr
werden. Gar oft haben wir bey ihm, seiner Umgebung und
seinem Bestreben, an Cellini denken müssen, um so mehr,
als beyde gleichzeitig gelebt. Auch die Biographien
oder Confessionen beyder, wie man sie wohl nennen
kann, treffen darin zusammen, daß die Verfasser, ob-
schon mit Misbilligung, doch auch zugleich mit eini-
gem Behagen von ihren Fehlern sprechen, und in ihre
Reue sich immer eine Art von Selbstgefälligkeit über
das Vollbrachte mit einmischt. Erinnern wir uns hie-
bey noch eines jüngern Zeitgenossen, des Michael Mon-
taigne, der mit einer unschätzbar heitern Wendung sei-
ne persönlichen Eigenheiten, so wie die Wunderlichkeiten
der Menschen überhaupt, zum Besten gibt; so findet
man die Bemerkung vielleicht nicht unbedeutend, daß
dasjenige, was bisher nur im Beichtstuhl als Geheim-
niß dem Priester ängstlich vertraut wurde, nun mit
einer Art von kühnem Zutrauen der ganzen Welt vor-
gelegt ward. Eine Vergleichung der sogenannten Con-
fessionen aller Zeiten würde in diesem Sinne gewiß

ßigen Bildung erheben; es blieb immer etwas Wildes
und Verworrenes in ſeinen Studien, ſeinem Charakter
und ganzen Weſen zuruͤck. Man mag uͤbrigens an
ihm noch ſo vieles Tadelnswerthe finden, ſo muß er
doch des großen Lobes theilhaft werden, daß es ihm
ſowohl um die aͤußern Dinge, als um ſich ſelbſt Ernſt
und zwar recht bitterer Ernſt geweſen, weshalb denn
auch ſeine Behandlung ſowohl der Gegenſtaͤnde als des
Lebens bis an ſein Ende leidenſchaftlich und heftig war. Er
kannte ſein eigenes Naturell bis auf einen gewiſſen Grad,
doch konnte er bis ins hoͤchſte Alter nicht daruͤber Herr
werden. Gar oft haben wir bey ihm, ſeiner Umgebung und
ſeinem Beſtreben, an Cellini denken muͤſſen, um ſo mehr,
als beyde gleichzeitig gelebt. Auch die Biographien
oder Confeſſionen beyder, wie man ſie wohl nennen
kann, treffen darin zuſammen, daß die Verfaſſer, ob-
ſchon mit Misbilligung, doch auch zugleich mit eini-
gem Behagen von ihren Fehlern ſprechen, und in ihre
Reue ſich immer eine Art von Selbſtgefaͤlligkeit uͤber
das Vollbrachte mit einmiſcht. Erinnern wir uns hie-
bey noch eines juͤngern Zeitgenoſſen, des Michael Mon-
taigne, der mit einer unſchaͤtzbar heitern Wendung ſei-
ne perſoͤnlichen Eigenheiten, ſo wie die Wunderlichkeiten
der Menſchen uͤberhaupt, zum Beſten gibt; ſo findet
man die Bemerkung vielleicht nicht unbedeutend, daß
dasjenige, was bisher nur im Beichtſtuhl als Geheim-
niß dem Prieſter aͤngſtlich vertraut wurde, nun mit
einer Art von kuͤhnem Zutrauen der ganzen Welt vor-
gelegt ward. Eine Vergleichung der ſogenannten Con-
feſſionen aller Zeiten wuͤrde in dieſem Sinne gewiß

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[218/0252] ßigen Bildung erheben; es blieb immer etwas Wildes und Verworrenes in ſeinen Studien, ſeinem Charakter und ganzen Weſen zuruͤck. Man mag uͤbrigens an ihm noch ſo vieles Tadelnswerthe finden, ſo muß er doch des großen Lobes theilhaft werden, daß es ihm ſowohl um die aͤußern Dinge, als um ſich ſelbſt Ernſt und zwar recht bitterer Ernſt geweſen, weshalb denn auch ſeine Behandlung ſowohl der Gegenſtaͤnde als des Lebens bis an ſein Ende leidenſchaftlich und heftig war. Er kannte ſein eigenes Naturell bis auf einen gewiſſen Grad, doch konnte er bis ins hoͤchſte Alter nicht daruͤber Herr werden. Gar oft haben wir bey ihm, ſeiner Umgebung und ſeinem Beſtreben, an Cellini denken muͤſſen, um ſo mehr, als beyde gleichzeitig gelebt. Auch die Biographien oder Confeſſionen beyder, wie man ſie wohl nennen kann, treffen darin zuſammen, daß die Verfaſſer, ob- ſchon mit Misbilligung, doch auch zugleich mit eini- gem Behagen von ihren Fehlern ſprechen, und in ihre Reue ſich immer eine Art von Selbſtgefaͤlligkeit uͤber das Vollbrachte mit einmiſcht. Erinnern wir uns hie- bey noch eines juͤngern Zeitgenoſſen, des Michael Mon- taigne, der mit einer unſchaͤtzbar heitern Wendung ſei- ne perſoͤnlichen Eigenheiten, ſo wie die Wunderlichkeiten der Menſchen uͤberhaupt, zum Beſten gibt; ſo findet man die Bemerkung vielleicht nicht unbedeutend, daß dasjenige, was bisher nur im Beichtſtuhl als Geheim- niß dem Prieſter aͤngſtlich vertraut wurde, nun mit einer Art von kuͤhnem Zutrauen der ganzen Welt vor- gelegt ward. Eine Vergleichung der ſogenannten Con- feſſionen aller Zeiten wuͤrde in dieſem Sinne gewiß

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/252>, abgerufen am 24.11.2024.