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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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kung gehabt. Die Bücher des alten Testaments fan-
den sich kaum gesammelt, so war die Nation, aus
der sie entsprungen, völlig zerstreut; nur der Buchsta-
be war es, um den die Zerstreuten sich sammelten und
noch sammlen. Kaum hatte man die Bücher des
neuen Testaments vereinigt, als die Christenheit sich
in unendliche Meynungen spaltete. Und so finden wir,
daß sich die Menschen nicht sowohl mit dem Werke als
an dem Werke beschäftigten, und sich über die ver-
schiedenen Auslegungsarten entzweyten, die man auf
den Text anwenden, die man dem Text unterschieben,
mit denen man ihn zudecken konnte.

Hier werden wir nun veranlaßt, jener beyden treff-
lichen Männer zu gedenken, die wir oben genannt.
Es wäre Verwegenheit, ihr Verdienst an dieser Stelle
würdigen, ja nur schildern zu wollen; also nicht mehr
denn das Nothwendigste zu unsern Zwecken.

Plato verhält sich zu der Welt, wie ein seliger
Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen.
Es ist ihm nicht sowohl darum zu thun, sie kennen zu
lernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige,
was er mitbringt und was ihr so noth thut, freund-
lich mitzutheilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um
sie mit seinem Wesen auszufüllen, als um sie zu erfor-
schen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht,
seines Ursprungs wieder theilhaft zu werden. Alles
was er äußert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gu-
tes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem

kung gehabt. Die Buͤcher des alten Teſtaments fan-
den ſich kaum geſammelt, ſo war die Nation, aus
der ſie entſprungen, voͤllig zerſtreut; nur der Buchſta-
be war es, um den die Zerſtreuten ſich ſammelten und
noch ſammlen. Kaum hatte man die Buͤcher des
neuen Teſtaments vereinigt, als die Chriſtenheit ſich
in unendliche Meynungen ſpaltete. Und ſo finden wir,
daß ſich die Menſchen nicht ſowohl mit dem Werke als
an dem Werke beſchaͤftigten, und ſich uͤber die ver-
ſchiedenen Auslegungsarten entzweyten, die man auf
den Text anwenden, die man dem Text unterſchieben,
mit denen man ihn zudecken konnte.

Hier werden wir nun veranlaßt, jener beyden treff-
lichen Maͤnner zu gedenken, die wir oben genannt.
Es waͤre Verwegenheit, ihr Verdienſt an dieſer Stelle
wuͤrdigen, ja nur ſchildern zu wollen; alſo nicht mehr
denn das Nothwendigſte zu unſern Zwecken.

Plato verhaͤlt ſich zu der Welt, wie ein ſeliger
Geiſt, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen.
Es iſt ihm nicht ſowohl darum zu thun, ſie kennen zu
lernen, weil er ſie ſchon vorausſetzt, als ihr dasjenige,
was er mitbringt und was ihr ſo noth thut, freund-
lich mitzutheilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um
ſie mit ſeinem Weſen auszufuͤllen, als um ſie zu erfor-
ſchen. Er bewegt ſich nach der Hoͤhe, mit Sehnſucht,
ſeines Urſprungs wieder theilhaft zu werden. Alles
was er aͤußert, bezieht ſich auf ein ewig Ganzes, Gu-
tes, Wahres, Schoͤnes, deſſen Forderung er in jedem

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[140/0174] kung gehabt. Die Buͤcher des alten Teſtaments fan- den ſich kaum geſammelt, ſo war die Nation, aus der ſie entſprungen, voͤllig zerſtreut; nur der Buchſta- be war es, um den die Zerſtreuten ſich ſammelten und noch ſammlen. Kaum hatte man die Buͤcher des neuen Teſtaments vereinigt, als die Chriſtenheit ſich in unendliche Meynungen ſpaltete. Und ſo finden wir, daß ſich die Menſchen nicht ſowohl mit dem Werke als an dem Werke beſchaͤftigten, und ſich uͤber die ver- ſchiedenen Auslegungsarten entzweyten, die man auf den Text anwenden, die man dem Text unterſchieben, mit denen man ihn zudecken konnte. Hier werden wir nun veranlaßt, jener beyden treff- lichen Maͤnner zu gedenken, die wir oben genannt. Es waͤre Verwegenheit, ihr Verdienſt an dieſer Stelle wuͤrdigen, ja nur ſchildern zu wollen; alſo nicht mehr denn das Nothwendigſte zu unſern Zwecken. Plato verhaͤlt ſich zu der Welt, wie ein ſeliger Geiſt, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es iſt ihm nicht ſowohl darum zu thun, ſie kennen zu lernen, weil er ſie ſchon vorausſetzt, als ihr dasjenige, was er mitbringt und was ihr ſo noth thut, freund- lich mitzutheilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um ſie mit ſeinem Weſen auszufuͤllen, als um ſie zu erfor- ſchen. Er bewegt ſich nach der Hoͤhe, mit Sehnſucht, ſeines Urſprungs wieder theilhaft zu werden. Alles was er aͤußert, bezieht ſich auf ein ewig Ganzes, Gu- tes, Wahres, Schoͤnes, deſſen Forderung er in jedem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/174>, abgerufen am 28.03.2024.