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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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welches in der Geschichte der Farbenlehre um so noth-
wendiger ist, als sie ihre eigenen Schicksale gehabt hat
und auf dem Meere des Wissens bald nur für kurze
Zeit auftaucht, bald wieder auf längere niedersinkt und
verschwindet.

In wiefern bey der ersten Entwickelung nachsin-
nender Menschen mystisch-arithmetische Vorstellungsar-
ten wirklich statt gefunden, ist schwer zu beurtheilen,
da die Documente meistens verdächtig sind. Manches
andre, was man uns von jenen Anfängen gern möchte
glauben machen, ist eben so unzuverlässig, und wenige
werden uns daher verargen, wenn wir den Blick von
der Wiege so mancher Nationen weg und dahin wen-
den, wo uns eine erfreuliche Jugend entgegen kommt.

Die Griechen, welche zu ihren Naturbetrachtungen
aus den Regionen der Poesie herüberkamen, erhielten
sich dabey noch dichterische Eigenschaften. Sie schauten
die Gegenstände tüchtig und lebendig und fühlten sich
gedrungen, die Gegenwart lebendig auszusprechen. Su-
chen sie sich darauf von ihr durch Resiexion loszuwin-
den, so kommen sie wie Jedermann in Verlegenheit,
indem sie die Phänomene für den Verstand zu bearbei-
ten denken. Sinnliches wird aus Sinnlichem erklärt,
dasselbe durch dasselbe. Sie finden sich in einer Art
von Cirkel und jagen das Unerklärliche immer vor sich
her im Kreise herum.

Der Bezug zu dem Aehnlichen ist das erste Hülfsmittel,
wozu sie greifen. Es ist bequem und nützlich, indem

welches in der Geſchichte der Farbenlehre um ſo noth-
wendiger iſt, als ſie ihre eigenen Schickſale gehabt hat
und auf dem Meere des Wiſſens bald nur fuͤr kurze
Zeit auftaucht, bald wieder auf laͤngere niederſinkt und
verſchwindet.

In wiefern bey der erſten Entwickelung nachſin-
nender Menſchen myſtiſch-arithmetiſche Vorſtellungsar-
ten wirklich ſtatt gefunden, iſt ſchwer zu beurtheilen,
da die Documente meiſtens verdaͤchtig ſind. Manches
andre, was man uns von jenen Anfaͤngen gern moͤchte
glauben machen, iſt eben ſo unzuverlaͤſſig, und wenige
werden uns daher verargen, wenn wir den Blick von
der Wiege ſo mancher Nationen weg und dahin wen-
den, wo uns eine erfreuliche Jugend entgegen kommt.

Die Griechen, welche zu ihren Naturbetrachtungen
aus den Regionen der Poeſie heruͤberkamen, erhielten
ſich dabey noch dichteriſche Eigenſchaften. Sie ſchauten
die Gegenſtaͤnde tuͤchtig und lebendig und fuͤhlten ſich
gedrungen, die Gegenwart lebendig auszuſprechen. Su-
chen ſie ſich darauf von ihr durch Reſiexion loszuwin-
den, ſo kommen ſie wie Jedermann in Verlegenheit,
indem ſie die Phaͤnomene fuͤr den Verſtand zu bearbei-
ten denken. Sinnliches wird aus Sinnlichem erklaͤrt,
daſſelbe durch daſſelbe. Sie finden ſich in einer Art
von Cirkel und jagen das Unerklaͤrliche immer vor ſich
her im Kreiſe herum.

Der Bezug zu dem Aehnlichen iſt das erſte Huͤlfsmittel,
wozu ſie greifen. Es iſt bequem und nuͤtzlich, indem

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[108/0142] welches in der Geſchichte der Farbenlehre um ſo noth- wendiger iſt, als ſie ihre eigenen Schickſale gehabt hat und auf dem Meere des Wiſſens bald nur fuͤr kurze Zeit auftaucht, bald wieder auf laͤngere niederſinkt und verſchwindet. In wiefern bey der erſten Entwickelung nachſin- nender Menſchen myſtiſch-arithmetiſche Vorſtellungsar- ten wirklich ſtatt gefunden, iſt ſchwer zu beurtheilen, da die Documente meiſtens verdaͤchtig ſind. Manches andre, was man uns von jenen Anfaͤngen gern moͤchte glauben machen, iſt eben ſo unzuverlaͤſſig, und wenige werden uns daher verargen, wenn wir den Blick von der Wiege ſo mancher Nationen weg und dahin wen- den, wo uns eine erfreuliche Jugend entgegen kommt. Die Griechen, welche zu ihren Naturbetrachtungen aus den Regionen der Poeſie heruͤberkamen, erhielten ſich dabey noch dichteriſche Eigenſchaften. Sie ſchauten die Gegenſtaͤnde tuͤchtig und lebendig und fuͤhlten ſich gedrungen, die Gegenwart lebendig auszuſprechen. Su- chen ſie ſich darauf von ihr durch Reſiexion loszuwin- den, ſo kommen ſie wie Jedermann in Verlegenheit, indem ſie die Phaͤnomene fuͤr den Verſtand zu bearbei- ten denken. Sinnliches wird aus Sinnlichem erklaͤrt, daſſelbe durch daſſelbe. Sie finden ſich in einer Art von Cirkel und jagen das Unerklaͤrliche immer vor ſich her im Kreiſe herum. Der Bezug zu dem Aehnlichen iſt das erſte Huͤlfsmittel, wozu ſie greifen. Es iſt bequem und nuͤtzlich, indem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/142>, abgerufen am 26.04.2024.