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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Ferner sehen wir auch unsere Kinder, welche ei-
nen Begriff von Malerey sich geschwind bilden kön-
nen, sehr bald um etwas weiter gehen, und den
Versuch machen, wie sie mit Ziegelmehl ihren Fratzen
von Seiten der Farbe mehr Naturähnlichkeit verschaf-
fen möchten: eben so, wie nach Plinius Bericht der
Corinthier Cleophantus soll gethan haben. Und wir
sehen nicht, was sich gegen die Wahrscheinlichkeit die-
ser Nachricht von der ersten einfachsten Weise, wie
sich der Sinn fürs Colorit ausgesprochen, viel ein-
wenden ließe. Denn ehe man den Boden nach Ocker-
arten und Kreiden durchsucht und verschiedene Haupt-
farben zur Nachahmung der Carnation zu mischen ge-
wagt, mögen wohl die Scherben gebrannter irdener
Gefäße oder Backsteine das nächste und beste Mittel
dargeboten haben, den vorgesetzten Zweck zu errei-
chen.

Hierbey wird Jedermann leicht einfallen, daß die
bemalten, sogenannten hetrurischen, Gefäße in ge-
brannter Erde gewissermaßen als Symbole dieser uran-
fänglichen Malerey können angesehen werden. Die
ältesten derselben mit schwarzen, im Detail oft noch
unförmlichen Gestalten, stellen uns die Linearzeichnun-
gen des Telephanes und Ardices vor Augen; und
wie Plinius von den Werken dieser beyden Künstler
erzählt, so sind auch auf den erwähnten Vasenzeich-
nungen ältester Art, im Innern, zur Andeutung der
Theile, einzelne Linien gezogen. Woraus klar erhellt,
daß man dadurch keinesweges eigentliche Schattenrisse

Ferner ſehen wir auch unſere Kinder, welche ei-
nen Begriff von Malerey ſich geſchwind bilden koͤn-
nen, ſehr bald um etwas weiter gehen, und den
Verſuch machen, wie ſie mit Ziegelmehl ihren Fratzen
von Seiten der Farbe mehr Naturaͤhnlichkeit verſchaf-
fen moͤchten: eben ſo, wie nach Plinius Bericht der
Corinthier Cleophantus ſoll gethan haben. Und wir
ſehen nicht, was ſich gegen die Wahrſcheinlichkeit die-
ſer Nachricht von der erſten einfachſten Weiſe, wie
ſich der Sinn fuͤrs Colorit ausgeſprochen, viel ein-
wenden ließe. Denn ehe man den Boden nach Ocker-
arten und Kreiden durchſucht und verſchiedene Haupt-
farben zur Nachahmung der Carnation zu miſchen ge-
wagt, moͤgen wohl die Scherben gebrannter irdener
Gefaͤße oder Backſteine das naͤchſte und beſte Mittel
dargeboten haben, den vorgeſetzten Zweck zu errei-
chen.

Hierbey wird Jedermann leicht einfallen, daß die
bemalten, ſogenannten hetruriſchen, Gefaͤße in ge-
brannter Erde gewiſſermaßen als Symbole dieſer uran-
faͤnglichen Malerey koͤnnen angeſehen werden. Die
aͤlteſten derſelben mit ſchwarzen, im Detail oft noch
unfoͤrmlichen Geſtalten, ſtellen uns die Linearzeichnun-
gen des Telephanes und Ardices vor Augen; und
wie Plinius von den Werken dieſer beyden Kuͤnſtler
erzaͤhlt, ſo ſind auch auf den erwaͤhnten Vaſenzeich-
nungen aͤlteſter Art, im Innern, zur Andeutung der
Theile, einzelne Linien gezogen. Woraus klar erhellt,
daß man dadurch keinesweges eigentliche Schattenriſſe

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[71/0105] Ferner ſehen wir auch unſere Kinder, welche ei- nen Begriff von Malerey ſich geſchwind bilden koͤn- nen, ſehr bald um etwas weiter gehen, und den Verſuch machen, wie ſie mit Ziegelmehl ihren Fratzen von Seiten der Farbe mehr Naturaͤhnlichkeit verſchaf- fen moͤchten: eben ſo, wie nach Plinius Bericht der Corinthier Cleophantus ſoll gethan haben. Und wir ſehen nicht, was ſich gegen die Wahrſcheinlichkeit die- ſer Nachricht von der erſten einfachſten Weiſe, wie ſich der Sinn fuͤrs Colorit ausgeſprochen, viel ein- wenden ließe. Denn ehe man den Boden nach Ocker- arten und Kreiden durchſucht und verſchiedene Haupt- farben zur Nachahmung der Carnation zu miſchen ge- wagt, moͤgen wohl die Scherben gebrannter irdener Gefaͤße oder Backſteine das naͤchſte und beſte Mittel dargeboten haben, den vorgeſetzten Zweck zu errei- chen. Hierbey wird Jedermann leicht einfallen, daß die bemalten, ſogenannten hetruriſchen, Gefaͤße in ge- brannter Erde gewiſſermaßen als Symbole dieſer uran- faͤnglichen Malerey koͤnnen angeſehen werden. Die aͤlteſten derſelben mit ſchwarzen, im Detail oft noch unfoͤrmlichen Geſtalten, ſtellen uns die Linearzeichnun- gen des Telephanes und Ardices vor Augen; und wie Plinius von den Werken dieſer beyden Kuͤnſtler erzaͤhlt, ſo ſind auch auf den erwaͤhnten Vaſenzeich- nungen aͤlteſter Art, im Innern, zur Andeutung der Theile, einzelne Linien gezogen. Woraus klar erhellt, daß man dadurch keinesweges eigentliche Schattenriſſe

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/105>, abgerufen am 26.04.2024.