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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Hypothetische Geschichte
des Colorits
besonders griechischer Maler

vorzüglich nach dem Berichte des Plinius.

Der Verfasser nennt die gegenwärtige Abhand-
lung eine hypothetische Geschichte, weil die Nachrich-
ten, welche uns durch alte Schriftsteller überliefert
worden, in vielen Stücken höchst undeutlich und lücken-
haft sind, und also durch Vermuthungen erst aufge-
klärt und ergänzt werden müssen. Wenn indessen
dasjenige, was wir vermuthen, auf eine ganz natür-
liche und keinesweges gezwungene Weise aus dem
Ganzen der Nachrichten hervorgeht, oder durch den
Gang der Sache selbst als nothwendig gefordert wird;
so verdient dasselbe allerdings mehr Glaubwürdigkeit
als ein solches Ueberliefertes, das sich mit dem We-
sen der Kunst schwer oder gar nicht verträgt. Der
Verfasser behält sich also die Freyheit vor, theils Ver-
muthungen, deren Wahrscheinlichkeit ihm nach dem
nothwendigen Gange der Kunst einleuchtend ist, vor-
zubringen, theils Nachrichten, welche ihm widerspre-
chend scheinen, wenn sie sich gleich auf die Autorität
eines alten Schriftstellers gründen sollten, zu ver-
werfen.

Hypothetiſche Geſchichte
des Colorits
beſonders griechiſcher Maler

vorzüglich nach dem Berichte des Plinius.

Der Verfaſſer nennt die gegenwaͤrtige Abhand-
lung eine hypothetiſche Geſchichte, weil die Nachrich-
ten, welche uns durch alte Schriftſteller uͤberliefert
worden, in vielen Stuͤcken hoͤchſt undeutlich und luͤcken-
haft ſind, und alſo durch Vermuthungen erſt aufge-
klaͤrt und ergaͤnzt werden muͤſſen. Wenn indeſſen
dasjenige, was wir vermuthen, auf eine ganz natuͤr-
liche und keinesweges gezwungene Weiſe aus dem
Ganzen der Nachrichten hervorgeht, oder durch den
Gang der Sache ſelbſt als nothwendig gefordert wird;
ſo verdient daſſelbe allerdings mehr Glaubwuͤrdigkeit
als ein ſolches Ueberliefertes, das ſich mit dem We-
ſen der Kunſt ſchwer oder gar nicht vertraͤgt. Der
Verfaſſer behaͤlt ſich alſo die Freyheit vor, theils Ver-
muthungen, deren Wahrſcheinlichkeit ihm nach dem
nothwendigen Gange der Kunſt einleuchtend iſt, vor-
zubringen, theils Nachrichten, welche ihm widerſpre-
chend ſcheinen, wenn ſie ſich gleich auf die Autoritaͤt
eines alten Schriftſtellers gruͤnden ſollten, zu ver-
werfen.

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[69/0103] Hypothetiſche Geſchichte des Colorits beſonders griechiſcher Maler vorzüglich nach dem Berichte des Plinius. Der Verfaſſer nennt die gegenwaͤrtige Abhand- lung eine hypothetiſche Geſchichte, weil die Nachrich- ten, welche uns durch alte Schriftſteller uͤberliefert worden, in vielen Stuͤcken hoͤchſt undeutlich und luͤcken- haft ſind, und alſo durch Vermuthungen erſt aufge- klaͤrt und ergaͤnzt werden muͤſſen. Wenn indeſſen dasjenige, was wir vermuthen, auf eine ganz natuͤr- liche und keinesweges gezwungene Weiſe aus dem Ganzen der Nachrichten hervorgeht, oder durch den Gang der Sache ſelbſt als nothwendig gefordert wird; ſo verdient daſſelbe allerdings mehr Glaubwuͤrdigkeit als ein ſolches Ueberliefertes, das ſich mit dem We- ſen der Kunſt ſchwer oder gar nicht vertraͤgt. Der Verfaſſer behaͤlt ſich alſo die Freyheit vor, theils Ver- muthungen, deren Wahrſcheinlichkeit ihm nach dem nothwendigen Gange der Kunſt einleuchtend iſt, vor- zubringen, theils Nachrichten, welche ihm widerſpre- chend ſcheinen, wenn ſie ſich gleich auf die Autoritaͤt eines alten Schriftſtellers gruͤnden ſollten, zu ver- werfen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/103>, abgerufen am 16.04.2024.