Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Classe, vielleicht zu weitläuftig ausgeführt; so hätten
wir folgendes zu bemerken. Der Vortrag irgend eines
Gegenstandes unsres Wissens kann sich theils auf die
innre Nothwendigkeit der abzuhandelnden Materie, theils
aber auch auf das Bedürfniß der Zeit, in welcher der
Vortrag geschieht, beziehen. Bey dem unsrigen waren
wir genöthigt, beyde Rücksichten immer vor Augen zu
haben. Einmal war es die Absicht, unsre sämmtlichen
Erfahrungen so wie unsre Ueberzeugungen, nach einer
lange geprüften Methode, vorzulegen; sodann aber muß-
ten wir unser Augenmerk darauf richten, manche zwar
bekannte, aber doch verkannte, besonders auch in falschen
Verknüpfungen aufgestellte Phänomene in ihrer natür-
lichen Entwicklung und wahrhaft erfahrungsmäßigen
Ordnung darzustellen, damit wir künftig, bey polemi-
scher und historischer Behandlung, schon eine vollstän-
dige Vorarbeit zu leichterer Uebersicht ins Mittel brin-
gen könnten. Daher ist denn freylich eine größere Um-
ständlichkeit nöthig geworden, welche eigentlich nur dem
gegenwärtigen Bedürfniß zum Opfer gebracht wird.
Künftig, wenn man erst das Einfache als einfach, das
Zusammengesetzte als zusammengesetzt, das Erste und
Obere als ein solches, das Zweyte, Abgeleitete auch
als ein solches anerkennen und schauen wird; dann
läßt sich dieser ganze Vortrag ins Engere zusammen-
ziehen, welches, wenn es uns nicht selbst noch glücken
sollte, wir einer heiter thätigen Mit- und Nachwelt
überlassen.

Claſſe, vielleicht zu weitlaͤuftig ausgefuͤhrt; ſo haͤtten
wir folgendes zu bemerken. Der Vortrag irgend eines
Gegenſtandes unſres Wiſſens kann ſich theils auf die
innre Nothwendigkeit der abzuhandelnden Materie, theils
aber auch auf das Beduͤrfniß der Zeit, in welcher der
Vortrag geſchieht, beziehen. Bey dem unſrigen waren
wir genoͤthigt, beyde Ruͤckſichten immer vor Augen zu
haben. Einmal war es die Abſicht, unſre ſaͤmmtlichen
Erfahrungen ſo wie unſre Ueberzeugungen, nach einer
lange gepruͤften Methode, vorzulegen; ſodann aber muß-
ten wir unſer Augenmerk darauf richten, manche zwar
bekannte, aber doch verkannte, beſonders auch in falſchen
Verknuͤpfungen aufgeſtellte Phaͤnomene in ihrer natuͤr-
lichen Entwicklung und wahrhaft erfahrungsmaͤßigen
Ordnung darzuſtellen, damit wir kuͤnftig, bey polemi-
ſcher und hiſtoriſcher Behandlung, ſchon eine vollſtaͤn-
dige Vorarbeit zu leichterer Ueberſicht ins Mittel brin-
gen koͤnnten. Daher iſt denn freylich eine groͤßere Um-
ſtaͤndlichkeit noͤthig geworden, welche eigentlich nur dem
gegenwaͤrtigen Beduͤrfniß zum Opfer gebracht wird.
Kuͤnftig, wenn man erſt das Einfache als einfach, das
Zuſammengeſetzte als zuſammengeſetzt, das Erſte und
Obere als ein ſolches, das Zweyte, Abgeleitete auch
als ein ſolches anerkennen und ſchauen wird; dann
laͤßt ſich dieſer ganze Vortrag ins Engere zuſammen-
ziehen, welches, wenn es uns nicht ſelbſt noch gluͤcken
ſollte, wir einer heiter thaͤtigen Mit- und Nachwelt
uͤberlaſſen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0193" n="139"/>
Cla&#x017F;&#x017F;e, vielleicht zu weitla&#x0364;uftig ausgefu&#x0364;hrt; &#x017F;o ha&#x0364;tten<lb/>
wir folgendes zu bemerken. Der Vortrag irgend eines<lb/>
Gegen&#x017F;tandes un&#x017F;res Wi&#x017F;&#x017F;ens kann &#x017F;ich theils auf die<lb/>
innre Nothwendigkeit der abzuhandelnden Materie, theils<lb/>
aber auch auf das Bedu&#x0364;rfniß der Zeit, in welcher der<lb/>
Vortrag ge&#x017F;chieht, beziehen. Bey dem un&#x017F;rigen waren<lb/>
wir geno&#x0364;thigt, beyde Ru&#x0364;ck&#x017F;ichten immer vor Augen zu<lb/>
haben. Einmal war es die Ab&#x017F;icht, un&#x017F;re &#x017F;a&#x0364;mmtlichen<lb/>
Erfahrungen &#x017F;o wie un&#x017F;re Ueberzeugungen, nach einer<lb/>
lange gepru&#x0364;ften Methode, vorzulegen; &#x017F;odann aber muß-<lb/>
ten wir un&#x017F;er Augenmerk darauf richten, manche zwar<lb/>
bekannte, aber doch verkannte, be&#x017F;onders auch in fal&#x017F;chen<lb/>
Verknu&#x0364;pfungen aufge&#x017F;tellte Pha&#x0364;nomene in ihrer natu&#x0364;r-<lb/>
lichen Entwicklung und wahrhaft erfahrungsma&#x0364;ßigen<lb/>
Ordnung darzu&#x017F;tellen, damit wir ku&#x0364;nftig, bey polemi-<lb/>
&#x017F;cher und hi&#x017F;tori&#x017F;cher Behandlung, &#x017F;chon eine voll&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
dige Vorarbeit zu leichterer Ueber&#x017F;icht ins Mittel brin-<lb/>
gen ko&#x0364;nnten. Daher i&#x017F;t denn freylich eine gro&#x0364;ßere Um-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndlichkeit no&#x0364;thig geworden, welche eigentlich nur dem<lb/>
gegenwa&#x0364;rtigen Bedu&#x0364;rfniß zum Opfer gebracht wird.<lb/>
Ku&#x0364;nftig, wenn man er&#x017F;t das Einfache als einfach, das<lb/>
Zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzte als zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt, das Er&#x017F;te und<lb/>
Obere als ein &#x017F;olches, das Zweyte, Abgeleitete auch<lb/>
als ein &#x017F;olches anerkennen und &#x017F;chauen wird; dann<lb/>
la&#x0364;ßt &#x017F;ich die&#x017F;er ganze Vortrag ins Engere zu&#x017F;ammen-<lb/>
ziehen, welches, wenn es uns nicht &#x017F;elb&#x017F;t noch glu&#x0364;cken<lb/>
&#x017F;ollte, wir einer heiter tha&#x0364;tigen Mit- und Nachwelt<lb/>
u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0193] Claſſe, vielleicht zu weitlaͤuftig ausgefuͤhrt; ſo haͤtten wir folgendes zu bemerken. Der Vortrag irgend eines Gegenſtandes unſres Wiſſens kann ſich theils auf die innre Nothwendigkeit der abzuhandelnden Materie, theils aber auch auf das Beduͤrfniß der Zeit, in welcher der Vortrag geſchieht, beziehen. Bey dem unſrigen waren wir genoͤthigt, beyde Ruͤckſichten immer vor Augen zu haben. Einmal war es die Abſicht, unſre ſaͤmmtlichen Erfahrungen ſo wie unſre Ueberzeugungen, nach einer lange gepruͤften Methode, vorzulegen; ſodann aber muß- ten wir unſer Augenmerk darauf richten, manche zwar bekannte, aber doch verkannte, beſonders auch in falſchen Verknuͤpfungen aufgeſtellte Phaͤnomene in ihrer natuͤr- lichen Entwicklung und wahrhaft erfahrungsmaͤßigen Ordnung darzuſtellen, damit wir kuͤnftig, bey polemi- ſcher und hiſtoriſcher Behandlung, ſchon eine vollſtaͤn- dige Vorarbeit zu leichterer Ueberſicht ins Mittel brin- gen koͤnnten. Daher iſt denn freylich eine groͤßere Um- ſtaͤndlichkeit noͤthig geworden, welche eigentlich nur dem gegenwaͤrtigen Beduͤrfniß zum Opfer gebracht wird. Kuͤnftig, wenn man erſt das Einfache als einfach, das Zuſammengeſetzte als zuſammengeſetzt, das Erſte und Obere als ein ſolches, das Zweyte, Abgeleitete auch als ein ſolches anerkennen und ſchauen wird; dann laͤßt ſich dieſer ganze Vortrag ins Engere zuſammen- ziehen, welches, wenn es uns nicht ſelbſt noch gluͤcken ſollte, wir einer heiter thaͤtigen Mit- und Nachwelt uͤberlaſſen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/193
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/193>, abgerufen am 04.12.2024.