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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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überschreiten, welchen Gesetz und Sitte,
Menschen-Gefühl, Gewissen, Religion und
Herkommen, zu Glück und Beruhigung um
das Menschengeschlecht gezogen haben.
Und so mögen Minister und Günstlinge,
Volksvertreter und Volk auf ihrer Huth
seyn, dass nicht auch sie, in den Strudel
unbedingten Wollens hingerissen, sich und
andere unwiederbringlich ins Verderben
hinabziehen.

Kehren wir nun zu unserm Reisenden
zurück, so finden wir ihn in einer unbe-
quemen Lage. Bey aller seiner Vorliebe
für den Orient muss della Valle doch end-
lich fühlen dass er in einem Lande wohnt
wo an keine Folge zu denken ist, und wo
mit dem reinsten Willen und grösster Thä-
tigkeit kein neues Rom zu erbauen wäre.
Die Verwandten seiner Frau lassen sich
nicht einmal durch Familien-Bande halten;
nachdem sie eine Zeitlang, zu Ispahan,
in dem vertraulichsten Kreise gelebt finden
sie es doch gerathener zurück an den Eu-
phrat zu ziehen, und ihre gewohnte Le-
bensweise dort fortzusetzen. Die übrigen
Georgier zeigen wenig Eifer, ja die Car-

überschreiten, welchen Gesetz und Sitte,
Menschen-Gefühl, Gewissen, Religion und
Herkommen, zu Glück und Beruhigung um
das Menschengeschlecht gezogen haben.
Und so mögen Minister und Günstlinge,
Volksvertreter und Volk auf ihrer Huth
seyn, daſs nicht auch sie, in den Strudel
unbedingten Wollens hingerissen, sich und
andere unwiederbringlich ins Verderben
hinabziehen.

Kehren wir nun zu unserm Reisenden
zurück, so finden wir ihn in einer unbe-
quemen Lage. Bey aller seiner Vorliebe
für den Orient muſs della Valle doch end-
lich fühlen daſs er in einem Lande wohnt
wo an keine Folge zu denken ist, und wo
mit dem reinsten Willen und gröſster Thä-
tigkeit kein neues Rom zu erbauen wäre.
Die Verwandten seiner Frau lassen sich
nicht einmal durch Familien-Bande halten;
nachdem sie eine Zeitlang, zu Ispahan,
in dem vertraulichsten Kreise gelebt finden
sie es doch gerathener zurück an den Eu-
phrat zu ziehen, und ihre gewohnte Le-
bensweise dort fortzusetzen. Die übrigen
Georgier zeigen wenig Eifer, ja die Car-

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[489[491]/0501] überschreiten, welchen Gesetz und Sitte, Menschen-Gefühl, Gewissen, Religion und Herkommen, zu Glück und Beruhigung um das Menschengeschlecht gezogen haben. Und so mögen Minister und Günstlinge, Volksvertreter und Volk auf ihrer Huth seyn, daſs nicht auch sie, in den Strudel unbedingten Wollens hingerissen, sich und andere unwiederbringlich ins Verderben hinabziehen. Kehren wir nun zu unserm Reisenden zurück, so finden wir ihn in einer unbe- quemen Lage. Bey aller seiner Vorliebe für den Orient muſs della Valle doch end- lich fühlen daſs er in einem Lande wohnt wo an keine Folge zu denken ist, und wo mit dem reinsten Willen und gröſster Thä- tigkeit kein neues Rom zu erbauen wäre. Die Verwandten seiner Frau lassen sich nicht einmal durch Familien-Bande halten; nachdem sie eine Zeitlang, zu Ispahan, in dem vertraulichsten Kreise gelebt finden sie es doch gerathener zurück an den Eu- phrat zu ziehen, und ihre gewohnte Le- bensweise dort fortzusetzen. Die übrigen Georgier zeigen wenig Eifer, ja die Car-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 489[491]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/501>, abgerufen am 17.06.2024.