unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch und den fünften Act, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.
Das Homerische Heldengedicht ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund aufthun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Ant- wort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Dra- ma's, sind nicht zulässig.
Höre man aber nun den modernen Im- provisator auf öffentlichem Markte, der ei- nen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu seyn, erst erzäh- len, dann, um Interesse zu erregen, als han- delnde Person sprechen, zuletzt enthusia- stisch auflodern und die Gemüther hinrei- ssen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Un- endliche mannigfaltig; und desshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wor- nach man sie neben oder nach einander auf- stellen könnte. Man wird sich aber eini-
unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch und den fünften Act, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.
Das Homerische Heldengedicht ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund aufthun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Ant- wort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Dra- ma’s, sind nicht zulässig.
Höre man aber nun den modernen Im- provisator auf öffentlichem Markte, der ei- nen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu seyn, erst erzäh- len, dann, um Interesse zu erregen, als han- delnde Person sprechen, zuletzt enthusia- stisch auflodern und die Gemüther hinrei- ſsen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Un- endliche mannigfaltig; und deſshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wor- nach man sie neben oder nach einander auf- stellen könnte. Man wird sich aber eini-
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unbequem und lästig. Im französischen
Trauerspiel ist die Exposition episch, die
Mitte dramatisch und den fünften Act, der
leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft,
kann man lyrisch nennen.
Das Homerische Heldengedicht ist rein
episch; der Rhapsode waltet immer vor,
was sich ereignet erzählt er; niemand darf
den Mund aufthun, dem er nicht vorher
das Wort verliehen, dessen Rede und Ant-
wort er nicht angekündigt. Abgebrochene
Wechselreden, die schönste Zierde des Dra-
ma’s, sind nicht zulässig.
Höre man aber nun den modernen Im-
provisator auf öffentlichem Markte, der ei-
nen geschichtlichen Gegenstand behandelt;
er wird, um deutlich zu seyn, erst erzäh-
len, dann, um Interesse zu erregen, als han-
delnde Person sprechen, zuletzt enthusia-
stisch auflodern und die Gemüther hinrei-
ſsen. So wunderlich sind diese Elemente
zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Un-
endliche mannigfaltig; und deſshalb auch
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/392>, abgerufen am 22.12.2024.
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