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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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die Unzahl mittlerer, täglicher Talente er-
hoben sahen; dabey aber auch in eine be-
sondere Zeit, in eine Lage gelangten, wo
sie eine grosse Erndte glücklich wegnehmen
und gleich-talentvollen Nachkommen sogar
die Wirkung auf eine Zeit lang verkümmern
durften, bis wieder ein Zeitraum verging,
in welchem die Natur dem Dichter neue
Schätze abermals aufschliessen konnte.

In diesem Sinne nehmen wir die Dar-
gestellten einzeln nochmals durch und be-
merken: dass

Firdusi die ganzen vergangenen Staats-
und Reichsereignisse, fabelhaft oder histo-
risch aufbehalten, vorwegnahm, so dass
einem Nachfolger nur Bezug und Anmer-
kung, nicht aber neue Behandlung und
Darstellung übrig blieb.

Enveri hielt sich fest an der Gegen-
wart. Glänzend und prächtig, wie die Na-
tur ihm erschien, freud- und gabenvoll er-
blickt er auch den Hof seines Schahs; bey-
de Welten und ihre Vorzüge mit den lieb-
lichsten Worten zu verknüpfen, war Pflicht
und Behagen. Niemand hat es ihm hierin
gleich gethan.

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die Unzahl mittlerer, täglicher Talente er-
hoben sahen; dabey aber auch in eine be-
sondere Zeit, in eine Lage gelangten, wo
sie eine groſse Erndte glücklich wegnehmen
und gleich-talentvollen Nachkommen sogar
die Wirkung auf eine Zeit lang verkümmern
durften, bis wieder ein Zeitraum verging,
in welchem die Natur dem Dichter neue
Schätze abermals aufschlieſsen konnte.

In diesem Sinne nehmen wir die Dar-
gestellten einzeln nochmals durch und be-
merken: daſs

Firdusi die ganzen vergangenen Staats-
und Reichsereignisse, fabelhaft oder histo-
risch aufbehalten, vorwegnahm, so daſs
einem Nachfolger nur Bezug und Anmer-
kung, nicht aber neue Behandlung und
Darstellung übrig blieb.

Enveri hielt sich fest an der Gegen-
wart. Glänzend und prächtig, wie die Na-
tur ihm erschien, freud- und gabenvoll er-
blickt er auch den Hof seines Schahs; bey-
de Welten und ihre Vorzüge mit den lieb-
lichsten Worten zu verknüpfen, war Pflicht
und Behagen. Niemand hat es ihm hierin
gleich gethan.

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[321/0331] die Unzahl mittlerer, täglicher Talente er- hoben sahen; dabey aber auch in eine be- sondere Zeit, in eine Lage gelangten, wo sie eine groſse Erndte glücklich wegnehmen und gleich-talentvollen Nachkommen sogar die Wirkung auf eine Zeit lang verkümmern durften, bis wieder ein Zeitraum verging, in welchem die Natur dem Dichter neue Schätze abermals aufschlieſsen konnte. In diesem Sinne nehmen wir die Dar- gestellten einzeln nochmals durch und be- merken: daſs Firdusi die ganzen vergangenen Staats- und Reichsereignisse, fabelhaft oder histo- risch aufbehalten, vorwegnahm, so daſs einem Nachfolger nur Bezug und Anmer- kung, nicht aber neue Behandlung und Darstellung übrig blieb. Enveri hielt sich fest an der Gegen- wart. Glänzend und prächtig, wie die Na- tur ihm erschien, freud- und gabenvoll er- blickt er auch den Hof seines Schahs; bey- de Welten und ihre Vorzüge mit den lieb- lichsten Worten zu verknüpfen, war Pflicht und Behagen. Niemand hat es ihm hierin gleich gethan. 21

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/331>, abgerufen am 21.11.2024.