In der Republik bilden sich grosse, glückliche, ruhig-rein thätige Charaktere; steigert sie sich zur Aristokratie, so ent- stehen würdige, consequente, tüchtige, im Befehlen und Gehorchen bewunderungswür- dige Männer. Geräth ein Staat in Anarchie, sogleich thun sich verwegene, kühne, sit- tenverachtende Menschen hervor, augen- blicklich gewaltsam wirkend, bis zum Ent- setzen, alle Mässigung verbannend. Die Despotie dagegen schafft grosse Charaktere; kluge, ruhige Uebersicht, strenge Thätig- keit, Festigkeit, Entschlossenheit, alles Ei- genschaften die man braucht um den Des- poten zu dienen, entwickeln sich in fähi- gen Geistern und verschaffen ihnen die er- sten Stellen des Staats, wo sie sich zu Herrschern ausbilden. Solche erwuchsen unter Alexander dem Grossen, nach dessen frühzeitigem Tode seine Generale sogleich als Könige dastanden. Auf die Caliphen häufte sich ein ungeheures Reich, das sie durch Statthalter mussten regieren lassen, deren Macht und Selbstständigkeit gedieh, indem die Kraft der obersten Herrscher ab- nahm. Ein solcher trefflicher Mann, der
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In der Republik bilden sich groſse, glückliche, ruhig-rein thätige Charaktere; steigert sie sich zur Aristokratie, so ent- stehen würdige, consequente, tüchtige, im Befehlen und Gehorchen bewunderungswür- dige Männer. Geräth ein Staat in Anarchie, sogleich thun sich verwegene, kühne, sit- tenverachtende Menschen hervor, augen- blicklich gewaltsam wirkend, bis zum Ent- setzen, alle Mäſsigung verbannend. Die Despotie dagegen schafft groſse Charaktere; kluge, ruhige Uebersicht, strenge Thätig- keit, Festigkeit, Entschlossenheit, alles Ei- genschaften die man braucht um den Des- poten zu dienen, entwickeln sich in fähi- gen Geistern und verschaffen ihnen die er- sten Stellen des Staats, wo sie sich zu Herrschern ausbilden. Solche erwuchsen unter Alexander dem Groſsen, nach dessen frühzeitigem Tode seine Generale sogleich als Könige dastanden. Auf die Caliphen häufte sich ein ungeheures Reich, das sie durch Statthalter muſsten regieren lassen, deren Macht und Selbstständigkeit gedieh, indem die Kraft der obersten Herrscher ab- nahm. Ein solcher trefflicher Mann, der
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In der Republik bilden sich groſse,
glückliche, ruhig-rein thätige Charaktere;
steigert sie sich zur Aristokratie, so ent-
stehen würdige, consequente, tüchtige, im
Befehlen und Gehorchen bewunderungswür-
dige Männer. Geräth ein Staat in Anarchie,
sogleich thun sich verwegene, kühne, sit-
tenverachtende Menschen hervor, augen-
blicklich gewaltsam wirkend, bis zum Ent-
setzen, alle Mäſsigung verbannend. Die
Despotie dagegen schafft groſse Charaktere;
kluge, ruhige Uebersicht, strenge Thätig-
keit, Festigkeit, Entschlossenheit, alles Ei-
genschaften die man braucht um den Des-
poten zu dienen, entwickeln sich in fähi-
gen Geistern und verschaffen ihnen die er-
sten Stellen des Staats, wo sie sich zu
Herrschern ausbilden. Solche erwuchsen
unter Alexander dem Groſsen, nach dessen
frühzeitigem Tode seine Generale sogleich
als Könige dastanden. Auf die Caliphen
häufte sich ein ungeheures Reich, das sie
durch Statthalter muſsten regieren lassen,
deren Macht und Selbstständigkeit gedieh,
indem die Kraft der obersten Herrscher ab-
nahm. Ein solcher trefflicher Mann, der
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/301>, abgerufen am 23.11.2024.
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