bleibt glühende Neigung jugendlicher Her- zen, die sich suchen, finden, abstossen, an- ziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen.
Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb- lichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räth- selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs- liebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit.
Eben so hat das Buch Ruth seinen unbezwinglichen Reiz über manchen wa- ckern Mann schon ausgeübt, dass er dem Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis- mus unschätzbar dargestellte Ereigniss, könne durch eine ausführliche, paraphrastische Be- handlung noch einigermassen gewinnen.
Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, dass es uns desshalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.
bleibt glühende Neigung jugendlicher Her- zen, die sich suchen, finden, abstoſsen, an- ziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen.
Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb- lichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räth- selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs- liebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit.
Eben so hat das Buch Ruth seinen unbezwinglichen Reiz über manchen wa- ckern Mann schon ausgeübt, daſs er dem Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis- mus unschätzbar dargestellte Ereigniſs, könne durch eine ausführliche, paraphrastische Be- handlung noch einigermaſsen gewinnen.
Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, daſs es uns deſshalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0260"n="250"/>
bleibt glühende Neigung jugendlicher Her-<lb/>
zen, die sich suchen, finden, abstoſsen, an-<lb/>
ziehen, unter mancherley höchst einfachen<lb/>
Zuständen.</p><lb/><p>Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb-<lb/>
lichen Verwirrung einiges herauszuheben,<lb/>
aneinander zu reihen; aber gerade das Räth-<lb/>
selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen<lb/>
Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit.<lb/>
Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs-<lb/>
liebende Geister angelockt worden irgend<lb/>
einen verständigen Zusammenhang zu finden<lb/>
oder hinein zu legen und einem folgenden<lb/>
bleibt immer dieselbige Arbeit.</p><lb/><p>Eben so hat das Buch Ruth seinen<lb/>
unbezwinglichen Reiz über manchen wa-<lb/>
ckern Mann schon ausgeübt, daſs er dem<lb/>
Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis-<lb/>
mus unschätzbar dargestellte Ereigniſs, könne<lb/>
durch eine ausführliche, paraphrastische Be-<lb/>
handlung noch einigermaſsen gewinnen.</p><lb/><p>Und so dürfte Buch für Buch das Buch<lb/>
aller Bücher darthun, daſs es uns deſshalb<lb/>
gegeben sey, damit wir uns daran, wie an<lb/>
einer zweiten Welt, versuchen, uns daran<lb/>
verirren, aufklären und ausbilden mögen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[250/0260]
bleibt glühende Neigung jugendlicher Her-
zen, die sich suchen, finden, abstoſsen, an-
ziehen, unter mancherley höchst einfachen
Zuständen.
Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb-
lichen Verwirrung einiges herauszuheben,
aneinander zu reihen; aber gerade das Räth-
selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen
Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit.
Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs-
liebende Geister angelockt worden irgend
einen verständigen Zusammenhang zu finden
oder hinein zu legen und einem folgenden
bleibt immer dieselbige Arbeit.
Eben so hat das Buch Ruth seinen
unbezwinglichen Reiz über manchen wa-
ckern Mann schon ausgeübt, daſs er dem
Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis-
mus unschätzbar dargestellte Ereigniſs, könne
durch eine ausführliche, paraphrastische Be-
handlung noch einigermaſsen gewinnen.
Und so dürfte Buch für Buch das Buch
aller Bücher darthun, daſs es uns deſshalb
gegeben sey, damit wir uns daran, wie an
einer zweiten Welt, versuchen, uns daran
verirren, aufklären und ausbilden mögen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/260>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.