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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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bleibt glühende Neigung jugendlicher Her-
zen, die sich suchen, finden, abstossen, an-
ziehen, unter mancherley höchst einfachen
Zuständen.

Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb-
lichen Verwirrung einiges herauszuheben,
aneinander zu reihen; aber gerade das Räth-
selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen
Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit.
Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs-
liebende Geister angelockt worden irgend
einen verständigen Zusammenhang zu finden
oder hinein zu legen und einem folgenden
bleibt immer dieselbige Arbeit.

Eben so hat das Buch Ruth seinen
unbezwinglichen Reiz über manchen wa-
ckern Mann schon ausgeübt, dass er dem
Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis-
mus unschätzbar dargestellte Ereigniss, könne
durch eine ausführliche, paraphrastische Be-
handlung noch einigermassen gewinnen.

Und so dürfte Buch für Buch das Buch
aller Bücher darthun, dass es uns desshalb
gegeben sey, damit wir uns daran, wie an
einer zweiten Welt, versuchen, uns daran
verirren, aufklären und ausbilden mögen.


bleibt glühende Neigung jugendlicher Her-
zen, die sich suchen, finden, abstoſsen, an-
ziehen, unter mancherley höchst einfachen
Zuständen.

Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb-
lichen Verwirrung einiges herauszuheben,
aneinander zu reihen; aber gerade das Räth-
selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen
Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit.
Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs-
liebende Geister angelockt worden irgend
einen verständigen Zusammenhang zu finden
oder hinein zu legen und einem folgenden
bleibt immer dieselbige Arbeit.

Eben so hat das Buch Ruth seinen
unbezwinglichen Reiz über manchen wa-
ckern Mann schon ausgeübt, daſs er dem
Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis-
mus unschätzbar dargestellte Ereigniſs, könne
durch eine ausführliche, paraphrastische Be-
handlung noch einigermaſsen gewinnen.

Und so dürfte Buch für Buch das Buch
aller Bücher darthun, daſs es uns deſshalb
gegeben sey, damit wir uns daran, wie an
einer zweiten Welt, versuchen, uns daran
verirren, aufklären und ausbilden mögen.


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[250/0260] bleibt glühende Neigung jugendlicher Her- zen, die sich suchen, finden, abstoſsen, an- ziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen. Mehrmals gedachten wir aus dieser lieb- lichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räth- selhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungs- liebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit. Eben so hat das Buch Ruth seinen unbezwinglichen Reiz über manchen wa- ckern Mann schon ausgeübt, daſs er dem Wahn sich hingab, das, in seinem Laconis- mus unschätzbar dargestellte Ereigniſs, könne durch eine ausführliche, paraphrastische Be- handlung noch einigermaſsen gewinnen. Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, daſs es uns deſshalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/260>, abgerufen am 16.06.2024.