ausdrückten und dadurch eingestanden dass sie besser als wir unser Innerstes zu ent- falten gewusst.
Um aber zu unserm eigentlichen Zweck zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar wohlbekannte, aber doch immer geheim- nissvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei- len. Wenn nämlich zwey Personen, die ein Buch verabreden und indem sie Seiten- und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden, gewiss sind, dass der Empfänger mit ge- ringem Bemühen den Sinn zusammen finden werde.
Das Lied, welches wir mit der Rubrik Chiffer bezeichnet, will auf eine solche Verabredung hindeuten. Liebende werden einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih- res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich- nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti- gen Zustand ausdrückt, und so entstehen zusammengeschriebene Lieder vom schön- sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen des unschätzbaren Dichters werden durch Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei- gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein inneres Leben und die Entfernten finden
ausdrückten und dadurch eingestanden daſs sie besser als wir unser Innerstes zu ent- falten gewuſst.
Um aber zu unserm eigentlichen Zweck zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar wohlbekannte, aber doch immer geheim- niſsvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei- len. Wenn nämlich zwey Personen, die ein Buch verabreden und indem sie Seiten- und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden, gewiſs sind, daſs der Empfänger mit ge- ringem Bemühen den Sinn zusammen finden werde.
Das Lied, welches wir mit der Rubrik Chiffer bezeichnet, will auf eine solche Verabredung hindeuten. Liebende werden einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih- res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich- nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti- gen Zustand ausdrückt, und so entstehen zusammengeschriebene Lieder vom schön- sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen des unschätzbaren Dichters werden durch Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei- gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein inneres Leben und die Entfernten finden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0404"n="394"/>
ausdrückten und dadurch eingestanden daſs<lb/>
sie besser als wir unser Innerstes zu ent-<lb/>
falten gewuſst.</p><lb/><p>Um aber zu unserm eigentlichen Zweck<lb/>
zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar<lb/>
wohlbekannte, aber doch immer geheim-<lb/>
niſsvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei-<lb/>
len. Wenn nämlich zwey Personen, die<lb/>
ein Buch verabreden und indem sie Seiten-<lb/>
und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden,<lb/>
gewiſs sind, daſs der Empfänger mit ge-<lb/>
ringem Bemühen den Sinn zusammen finden<lb/>
werde.</p><lb/><p>Das Lied, welches wir mit der Rubrik<lb/><hirendition="#g">Chiffer</hi> bezeichnet, will auf eine solche<lb/>
Verabredung hindeuten. Liebende werden<lb/>
einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih-<lb/>
res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich-<lb/>
nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti-<lb/>
gen Zustand ausdrückt, und so entstehen<lb/>
zusammengeschriebene Lieder vom schön-<lb/>
sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen<lb/>
des unschätzbaren Dichters werden durch<lb/>
Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei-<lb/>
gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein<lb/>
inneres Leben und die Entfernten finden<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[394/0404]
ausdrückten und dadurch eingestanden daſs
sie besser als wir unser Innerstes zu ent-
falten gewuſst.
Um aber zu unserm eigentlichen Zweck
zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar
wohlbekannte, aber doch immer geheim-
niſsvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei-
len. Wenn nämlich zwey Personen, die
ein Buch verabreden und indem sie Seiten-
und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden,
gewiſs sind, daſs der Empfänger mit ge-
ringem Bemühen den Sinn zusammen finden
werde.
Das Lied, welches wir mit der Rubrik
Chiffer bezeichnet, will auf eine solche
Verabredung hindeuten. Liebende werden
einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih-
res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich-
nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti-
gen Zustand ausdrückt, und so entstehen
zusammengeschriebene Lieder vom schön-
sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen
des unschätzbaren Dichters werden durch
Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei-
gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein
inneres Leben und die Entfernten finden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/404>, abgerufen am 29.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.