Zügen den Wänden ihrer Sarcophage eingegraben, und die kommenden Geschlechter sind zu den Gräbern hingeeilt, und haben die verborgenen Schätze dort gehoben, und sie mit dem Ihrigen vermehrt wieder mit hinabgenommen, wenn auch ihre Zeit gekommen war. Und so stehen auch wir vor diesen Sarcophagen und ihren geheimnißvollen Bildern; längst schon ist die Hand vergangen, die sie gestaltet, und in uns hat ein Auge sie zu betrachten sich geformt, das noch nicht war, als sie geworden; eine dunkle Ahndung ergreift uns mit wunderbarer Gewalt, wenn wir den geheimen Sinn zu entziffern uns bestreben: es ist als ob unsere Errinnerung ihre Mutter gefunden hätte; es ist als ob die Sterne wieder uns erschienen, die in der Dunkel- heit geleuchtet, als unsere Kindheit aus der Nacht hervorgegangen war; wir haben den Geist in uns gesogen, so will es im innersten Gemüth uns dünken, der jene Züge formte, wir selber haben sie uns selber zum Andenken in den Stein gegründet; es ist unsere eigene dunkele, verschleierte Vergangenheit, die uns begrüßt; die Aurora des jungen Tages sieht die Abend- röthe des Vergangenen noch am westlichen Himmel stehen. Das ist der wundersame Zauber, den das Alte übt, tiefer noch als das Andenken unserer Kind- heit regt es uns; wie die ferne Zukunft im Schooße
Zügen den Wänden ihrer Sarcophage eingegraben, und die kommenden Geſchlechter ſind zu den Gräbern hingeeilt, und haben die verborgenen Schätze dort gehoben, und ſie mit dem Ihrigen vermehrt wieder mit hinabgenommen, wenn auch ihre Zeit gekommen war. Und ſo ſtehen auch wir vor dieſen Sarcophagen und ihren geheimnißvollen Bildern; längſt ſchon iſt die Hand vergangen, die ſie geſtaltet, und in uns hat ein Auge ſie zu betrachten ſich geformt, das noch nicht war, als ſie geworden; eine dunkle Ahndung ergreift uns mit wunderbarer Gewalt, wenn wir den geheimen Sinn zu entziffern uns beſtreben: es iſt als ob unſere Errinnerung ihre Mutter gefunden hätte; es iſt als ob die Sterne wieder uns erſchienen, die in der Dunkel- heit geleuchtet, als unſere Kindheit aus der Nacht hervorgegangen war; wir haben den Geiſt in uns geſogen, ſo will es im innerſten Gemüth uns dünken, der jene Züge formte, wir ſelber haben ſie uns ſelber zum Andenken in den Stein gegründet; es iſt unſere eigene dunkele, verſchleierte Vergangenheit, die uns begrüßt; die Aurora des jungen Tages ſieht die Abend- röthe des Vergangenen noch am weſtlichen Himmel ſtehen. Das iſt der wunderſame Zauber, den das Alte übt, tiefer noch als das Andenken unſerer Kind- heit regt es uns; wie die ferne Zukunft im Schooße
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0286"n="270[268]"/>
Zügen den Wänden ihrer Sarcophage eingegraben,<lb/>
und die kommenden Geſchlechter ſind zu den Gräbern<lb/>
hingeeilt, und haben die verborgenen Schätze dort<lb/>
gehoben, und ſie mit dem Ihrigen vermehrt wieder mit<lb/>
hinabgenommen, wenn auch ihre Zeit gekommen war.<lb/>
Und ſo ſtehen auch wir vor dieſen Sarcophagen und<lb/>
ihren geheimnißvollen Bildern; längſt ſchon iſt die<lb/>
Hand vergangen, die ſie geſtaltet, und in uns hat<lb/>
ein Auge ſie zu betrachten ſich geformt, das noch nicht<lb/>
war, als ſie geworden; eine dunkle Ahndung ergreift<lb/>
uns mit wunderbarer Gewalt, wenn wir den geheimen<lb/>
Sinn zu entziffern uns beſtreben: es iſt als ob unſere<lb/>
Errinnerung ihre Mutter gefunden hätte; es iſt als ob<lb/>
die Sterne wieder uns erſchienen, die in der Dunkel-<lb/>
heit geleuchtet, als unſere Kindheit aus der Nacht<lb/>
hervorgegangen war; wir haben den Geiſt in uns<lb/>
geſogen, ſo will es im innerſten Gemüth uns dünken,<lb/>
der jene Züge formte, wir ſelber haben ſie uns ſelber<lb/>
zum Andenken in den Stein gegründet; es iſt unſere<lb/>
eigene dunkele, verſchleierte Vergangenheit, die uns<lb/>
begrüßt; die Aurora des jungen Tages ſieht die Abend-<lb/>
röthe des Vergangenen noch am weſtlichen Himmel<lb/>ſtehen. Das iſt der wunderſame Zauber, den das<lb/>
Alte übt, tiefer noch als das Andenken unſerer Kind-<lb/>
heit regt es uns; wie die ferne Zukunft im Schooße<lb/></p></div></body></text></TEI>
[270[268]/0286]
Zügen den Wänden ihrer Sarcophage eingegraben,
und die kommenden Geſchlechter ſind zu den Gräbern
hingeeilt, und haben die verborgenen Schätze dort
gehoben, und ſie mit dem Ihrigen vermehrt wieder mit
hinabgenommen, wenn auch ihre Zeit gekommen war.
Und ſo ſtehen auch wir vor dieſen Sarcophagen und
ihren geheimnißvollen Bildern; längſt ſchon iſt die
Hand vergangen, die ſie geſtaltet, und in uns hat
ein Auge ſie zu betrachten ſich geformt, das noch nicht
war, als ſie geworden; eine dunkle Ahndung ergreift
uns mit wunderbarer Gewalt, wenn wir den geheimen
Sinn zu entziffern uns beſtreben: es iſt als ob unſere
Errinnerung ihre Mutter gefunden hätte; es iſt als ob
die Sterne wieder uns erſchienen, die in der Dunkel-
heit geleuchtet, als unſere Kindheit aus der Nacht
hervorgegangen war; wir haben den Geiſt in uns
geſogen, ſo will es im innerſten Gemüth uns dünken,
der jene Züge formte, wir ſelber haben ſie uns ſelber
zum Andenken in den Stein gegründet; es iſt unſere
eigene dunkele, verſchleierte Vergangenheit, die uns
begrüßt; die Aurora des jungen Tages ſieht die Abend-
röthe des Vergangenen noch am weſtlichen Himmel
ſtehen. Das iſt der wunderſame Zauber, den das
Alte übt, tiefer noch als das Andenken unſerer Kind-
heit regt es uns; wie die ferne Zukunft im Schooße
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 270[268]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/286>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.