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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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1. Buch. 3. Tit.
gleichförmiger Handlungen, wenn kein Wiederspruch ge-
schahe, den stillschweigenden Willen des Gesezgebers an-
nehmen; als bey uns, wo die Landesherrn von dem
Verfahren der Gerichte eine solche Wissenschaft nicht
haben. Es dürfte also heutiges Tages das Argument
von dem Stillschweigen des Landesherrn auf desselben
Genehmigung ziemlich unsicher seyn, wenn nicht zu er-
weisen stehet, daß die Gewohnheit, wovon die Frage
ist, witklich zur Wissenschaft des Landesherrn gekommen,
indem, wenn dieselbe geschriebenen Gesetzen gerade ent-
gegen gehen sollte, der Buchstabe des Gesetzes sodann
immer einen überwiegenden Beweiß von dem Gegentheil
abgeben würde. Bey den Römern traten überhaupt
noch andere Umstände hinzu, die sie gewissermassen in
die Nothwendigkeit sezten, Gewohnheitsrechte gelten
zu lassen, nehmlich der Mangel an geschriebenen Gese-
zen, deren Unzulänglichkeit, und die Schwierigkeiten,
welche mit der Legislation auf den Comitien verbunden
waren; sie nahmen überdies Gewohnheitsrechte weit lie-
ber, als geschriebene Gesetze, an, weil erstere, als Früch-
te der Avtonomie, der Freiheit des Volks mehr schmei-
chelten, als die leztern, deren drohende Worte in auf-
gehangenen ehernen Tafeln gelesen wurden. Man wird
sich nun hieraus erklären können, warum das ius civi-
le Romanorum, quod sine scripto usus comprobavit,

wie Justinian 1) sich ausdruckt, von jeher ungleich
reichhaltiger an Rechtswahrheiten, als das geschriebene
Recht, gewesen. b) Eine zweite Vorsicht, bey heutiger
Anwendung jener fremden Rechte in der Lehre vom Ge-
wohnheitsrecht ist, daß man in den einzelnen Gesezstel-
len immer auf die Bedeutung des Worts consuetudo
genau Acht gebe; denn daß die Gesezgeber dieses Wort
nicht überall im eigentlichen Sinne genommen haben,

wird
1) §. 9. I. de I. N. G. et C.

1. Buch. 3. Tit.
gleichfoͤrmiger Handlungen, wenn kein Wiederſpruch ge-
ſchahe, den ſtillſchweigenden Willen des Geſezgebers an-
nehmen; als bey uns, wo die Landesherrn von dem
Verfahren der Gerichte eine ſolche Wiſſenſchaft nicht
haben. Es duͤrfte alſo heutiges Tages das Argument
von dem Stillſchweigen des Landesherrn auf deſſelben
Genehmigung ziemlich unſicher ſeyn, wenn nicht zu er-
weiſen ſtehet, daß die Gewohnheit, wovon die Frage
iſt, witklich zur Wiſſenſchaft des Landesherrn gekommen,
indem, wenn dieſelbe geſchriebenen Geſetzen gerade ent-
gegen gehen ſollte, der Buchſtabe des Geſetzes ſodann
immer einen uͤberwiegenden Beweiß von dem Gegentheil
abgeben wuͤrde. Bey den Roͤmern traten uͤberhaupt
noch andere Umſtaͤnde hinzu, die ſie gewiſſermaſſen in
die Nothwendigkeit ſezten, Gewohnheitsrechte gelten
zu laſſen, nehmlich der Mangel an geſchriebenen Geſe-
zen, deren Unzulaͤnglichkeit, und die Schwierigkeiten,
welche mit der Legislation auf den Comitien verbunden
waren; ſie nahmen uͤberdies Gewohnheitsrechte weit lie-
ber, als geſchriebene Geſetze, an, weil erſtere, als Fruͤch-
te der Avtonomie, der Freiheit des Volks mehr ſchmei-
chelten, als die leztern, deren drohende Worte in auf-
gehangenen ehernen Tafeln geleſen wurden. Man wird
ſich nun hieraus erklaͤren koͤnnen, warum das ius civi-
le Romanorum, quod ſine ſcripto uſus comprobavit,

wie Juſtinian 1) ſich ausdruckt, von jeher ungleich
reichhaltiger an Rechtswahrheiten, als das geſchriebene
Recht, geweſen. b) Eine zweite Vorſicht, bey heutiger
Anwendung jener fremden Rechte in der Lehre vom Ge-
wohnheitsrecht iſt, daß man in den einzelnen Geſezſtel-
len immer auf die Bedeutung des Worts conſuetudo
genau Acht gebe; denn daß die Geſezgeber dieſes Wort
nicht uͤberall im eigentlichen Sinne genommen haben,

wird
1) §. 9. I. de I. N. G. et C.
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[416/0436] 1. Buch. 3. Tit. gleichfoͤrmiger Handlungen, wenn kein Wiederſpruch ge- ſchahe, den ſtillſchweigenden Willen des Geſezgebers an- nehmen; als bey uns, wo die Landesherrn von dem Verfahren der Gerichte eine ſolche Wiſſenſchaft nicht haben. Es duͤrfte alſo heutiges Tages das Argument von dem Stillſchweigen des Landesherrn auf deſſelben Genehmigung ziemlich unſicher ſeyn, wenn nicht zu er- weiſen ſtehet, daß die Gewohnheit, wovon die Frage iſt, witklich zur Wiſſenſchaft des Landesherrn gekommen, indem, wenn dieſelbe geſchriebenen Geſetzen gerade ent- gegen gehen ſollte, der Buchſtabe des Geſetzes ſodann immer einen uͤberwiegenden Beweiß von dem Gegentheil abgeben wuͤrde. Bey den Roͤmern traten uͤberhaupt noch andere Umſtaͤnde hinzu, die ſie gewiſſermaſſen in die Nothwendigkeit ſezten, Gewohnheitsrechte gelten zu laſſen, nehmlich der Mangel an geſchriebenen Geſe- zen, deren Unzulaͤnglichkeit, und die Schwierigkeiten, welche mit der Legislation auf den Comitien verbunden waren; ſie nahmen uͤberdies Gewohnheitsrechte weit lie- ber, als geſchriebene Geſetze, an, weil erſtere, als Fruͤch- te der Avtonomie, der Freiheit des Volks mehr ſchmei- chelten, als die leztern, deren drohende Worte in auf- gehangenen ehernen Tafeln geleſen wurden. Man wird ſich nun hieraus erklaͤren koͤnnen, warum das ius civi- le Romanorum, quod ſine ſcripto uſus comprobavit, wie Juſtinian 1) ſich ausdruckt, von jeher ungleich reichhaltiger an Rechtswahrheiten, als das geſchriebene Recht, geweſen. b) Eine zweite Vorſicht, bey heutiger Anwendung jener fremden Rechte in der Lehre vom Ge- wohnheitsrecht iſt, daß man in den einzelnen Geſezſtel- len immer auf die Bedeutung des Worts conſuetudo genau Acht gebe; denn daß die Geſezgeber dieſes Wort nicht uͤberall im eigentlichen Sinne genommen haben, wird 1) §. 9. I. de I. N. G. et C.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/436>, abgerufen am 24.11.2024.