Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Buch. 1. Tit.
Rechtens ist, es auch in der bürgerlichen Societät seyn
müsse; allein es ist ja auch bekannt genug, daß man
den sogenannten natürlichen oder aussergesellschaftlichen
Zustand nicht mit dem natürlichen Rechte selbst vermi-
schen dürfe. Denken wir uns nun unter dem Natur-
rechte einen Inbegrif von Rechten und Verbindlichkeiten,
die jeder Mensch, wenn er nur den Gebrauch seiner Ver-
nunft hat, mit blosem Verstande als solche begreift,
wir mögen nun den Grund aller natürlichen Rechte und
Verbindlichkeiten blos auf das Wesen des Menschen zu-
rückführen, oder mit andern den aus der blosen Ver-
nunft erkannten Willen des Schöpfers, als das wahre
und einzige Fundament derselben betrachten; so ist un-
widersprechlich, daß Menschen im Staat so gut verbun-
den sind, die Gesetze der Natur zu befolgen, als aus-
ser dem Staat. Denn der Mensch wird Bürger eines
Staats, ohne die Eigenschaft des Menschen abzulegen,
und ohne aufzuhören, ein Geschöpf desjenigen zu seyn,
der ihm seinen Willen ins Herz geschrieben hat. Wie
könnte also wohl die auf den natürlichen Menschen ge-
pfropfte Eigenschaft des Staatsbürgers eine solche Me-
tamorphose in ihm hervorbringen, daß er nun der
Vernunft und dem durch dieselbe erkannten göttlichen
Willen entgegen handeln solle 8)? Es ist also ausser
allem Zweifel, daß eine jede natürliche Verbindlichkeit,
welche dem Menschen ausser dem bürgerlichen Zustande
obliegen, ferner ein jedes natürliches Recht, so demsel-
ben im aussergesellschaftlichen Zustande zustehen würde,
auch an sich und nach der Regel im bürgerlichen Zustande
vorhanden und fortdaurend sey; nur diejenigen Fälle aus-
genommen, da das bürgerliche Verhältniß des Menschen

eine
8) S. von Justi Natur und Wesen der Staaten
mit Anmerkungen von H. G. Scheidemantel (Mietau
1771.) §. 150.

1. Buch. 1. Tit.
Rechtens iſt, es auch in der buͤrgerlichen Societaͤt ſeyn
muͤſſe; allein es iſt ja auch bekannt genug, daß man
den ſogenannten natuͤrlichen oder auſſergeſellſchaftlichen
Zuſtand nicht mit dem natuͤrlichen Rechte ſelbſt vermi-
ſchen duͤrfe. Denken wir uns nun unter dem Natur-
rechte einen Inbegrif von Rechten und Verbindlichkeiten,
die jeder Menſch, wenn er nur den Gebrauch ſeiner Ver-
nunft hat, mit bloſem Verſtande als ſolche begreift,
wir moͤgen nun den Grund aller natuͤrlichen Rechte und
Verbindlichkeiten blos auf das Weſen des Menſchen zu-
ruͤckfuͤhren, oder mit andern den aus der bloſen Ver-
nunft erkannten Willen des Schoͤpfers, als das wahre
und einzige Fundament derſelben betrachten; ſo iſt un-
widerſprechlich, daß Menſchen im Staat ſo gut verbun-
den ſind, die Geſetze der Natur zu befolgen, als auſ-
ſer dem Staat. Denn der Menſch wird Buͤrger eines
Staats, ohne die Eigenſchaft des Menſchen abzulegen,
und ohne aufzuhoͤren, ein Geſchoͤpf desjenigen zu ſeyn,
der ihm ſeinen Willen ins Herz geſchrieben hat. Wie
koͤnnte alſo wohl die auf den natuͤrlichen Menſchen ge-
pfropfte Eigenſchaft des Staatsbuͤrgers eine ſolche Me-
tamorphoſe in ihm hervorbringen, daß er nun der
Vernunft und dem durch dieſelbe erkannten goͤttlichen
Willen entgegen handeln ſolle 8)? Es iſt alſo auſſer
allem Zweifel, daß eine jede natuͤrliche Verbindlichkeit,
welche dem Menſchen auſſer dem buͤrgerlichen Zuſtande
obliegen, ferner ein jedes natuͤrliches Recht, ſo demſel-
ben im auſſergeſellſchaftlichen Zuſtande zuſtehen wuͤrde,
auch an ſich und nach der Regel im buͤrgerlichen Zuſtande
vorhanden und fortdaurend ſey; nur diejenigen Faͤlle aus-
genommen, da das buͤrgerliche Verhaͤltniß des Menſchen

eine
8) S. von Juſti Natur und Weſen der Staaten
mit Anmerkungen von H. G. Scheidemantel (Mietau
1771.) §. 150.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0140" n="120"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr">1. Buch. 1. Tit.</hi></fw><lb/>
Rechtens i&#x017F;t, es auch in der bu&#x0364;rgerlichen Societa&#x0364;t &#x017F;eyn<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e; allein es i&#x017F;t ja auch bekannt genug, daß man<lb/>
den &#x017F;ogenannten natu&#x0364;rlichen oder au&#x017F;&#x017F;erge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen<lb/>
Zu&#x017F;tand nicht mit dem natu&#x0364;rlichen Rechte &#x017F;elb&#x017F;t vermi-<lb/>
&#x017F;chen du&#x0364;rfe. Denken wir uns nun unter dem Natur-<lb/>
rechte einen Inbegrif von Rechten und Verbindlichkeiten,<lb/>
die jeder Men&#x017F;ch, wenn er nur den Gebrauch &#x017F;einer Ver-<lb/>
nunft hat, mit blo&#x017F;em Ver&#x017F;tande als &#x017F;olche begreift,<lb/>
wir mo&#x0364;gen nun den Grund aller natu&#x0364;rlichen Rechte und<lb/>
Verbindlichkeiten blos auf das We&#x017F;en des Men&#x017F;chen zu-<lb/>
ru&#x0364;ckfu&#x0364;hren, oder mit andern den aus der blo&#x017F;en Ver-<lb/>
nunft erkannten Willen des Scho&#x0364;pfers, als das wahre<lb/>
und einzige Fundament der&#x017F;elben betrachten; &#x017F;o i&#x017F;t un-<lb/>
wider&#x017F;prechlich, daß Men&#x017F;chen im Staat &#x017F;o gut verbun-<lb/>
den &#x017F;ind, die Ge&#x017F;etze der Natur zu befolgen, als au&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er dem Staat. Denn der Men&#x017F;ch wird Bu&#x0364;rger eines<lb/>
Staats, ohne die Eigen&#x017F;chaft des Men&#x017F;chen abzulegen,<lb/>
und ohne aufzuho&#x0364;ren, ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf desjenigen zu &#x017F;eyn,<lb/>
der ihm &#x017F;einen Willen ins Herz ge&#x017F;chrieben hat. Wie<lb/>
ko&#x0364;nnte al&#x017F;o wohl die auf den natu&#x0364;rlichen Men&#x017F;chen ge-<lb/>
pfropfte Eigen&#x017F;chaft des Staatsbu&#x0364;rgers eine &#x017F;olche Me-<lb/>
tamorpho&#x017F;e in ihm hervorbringen, daß er nun der<lb/>
Vernunft und dem durch die&#x017F;elbe erkannten go&#x0364;ttlichen<lb/>
Willen entgegen handeln &#x017F;olle <note place="foot" n="8)">S. <hi rendition="#g">von</hi> <hi rendition="#fr">Ju&#x017F;ti</hi> <hi rendition="#g">Natur und We&#x017F;en der Staaten</hi><lb/>
mit Anmerkungen von <hi rendition="#fr">H. G. Scheidemantel</hi> (Mietau<lb/>
1771.) §. 150.</note>? Es i&#x017F;t al&#x017F;o au&#x017F;&#x017F;er<lb/>
allem Zweifel, daß eine jede natu&#x0364;rliche Verbindlichkeit,<lb/>
welche dem Men&#x017F;chen au&#x017F;&#x017F;er dem bu&#x0364;rgerlichen Zu&#x017F;tande<lb/>
obliegen, ferner ein jedes natu&#x0364;rliches Recht, &#x017F;o dem&#x017F;el-<lb/>
ben im au&#x017F;&#x017F;erge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Zu&#x017F;tande zu&#x017F;tehen wu&#x0364;rde,<lb/>
auch an &#x017F;ich und nach der Regel im bu&#x0364;rgerlichen Zu&#x017F;tande<lb/>
vorhanden und fortdaurend &#x017F;ey; nur diejenigen Fa&#x0364;lle aus-<lb/>
genommen, da das bu&#x0364;rgerliche Verha&#x0364;ltniß des Men&#x017F;chen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0140] 1. Buch. 1. Tit. Rechtens iſt, es auch in der buͤrgerlichen Societaͤt ſeyn muͤſſe; allein es iſt ja auch bekannt genug, daß man den ſogenannten natuͤrlichen oder auſſergeſellſchaftlichen Zuſtand nicht mit dem natuͤrlichen Rechte ſelbſt vermi- ſchen duͤrfe. Denken wir uns nun unter dem Natur- rechte einen Inbegrif von Rechten und Verbindlichkeiten, die jeder Menſch, wenn er nur den Gebrauch ſeiner Ver- nunft hat, mit bloſem Verſtande als ſolche begreift, wir moͤgen nun den Grund aller natuͤrlichen Rechte und Verbindlichkeiten blos auf das Weſen des Menſchen zu- ruͤckfuͤhren, oder mit andern den aus der bloſen Ver- nunft erkannten Willen des Schoͤpfers, als das wahre und einzige Fundament derſelben betrachten; ſo iſt un- widerſprechlich, daß Menſchen im Staat ſo gut verbun- den ſind, die Geſetze der Natur zu befolgen, als auſ- ſer dem Staat. Denn der Menſch wird Buͤrger eines Staats, ohne die Eigenſchaft des Menſchen abzulegen, und ohne aufzuhoͤren, ein Geſchoͤpf desjenigen zu ſeyn, der ihm ſeinen Willen ins Herz geſchrieben hat. Wie koͤnnte alſo wohl die auf den natuͤrlichen Menſchen ge- pfropfte Eigenſchaft des Staatsbuͤrgers eine ſolche Me- tamorphoſe in ihm hervorbringen, daß er nun der Vernunft und dem durch dieſelbe erkannten goͤttlichen Willen entgegen handeln ſolle 8)? Es iſt alſo auſſer allem Zweifel, daß eine jede natuͤrliche Verbindlichkeit, welche dem Menſchen auſſer dem buͤrgerlichen Zuſtande obliegen, ferner ein jedes natuͤrliches Recht, ſo demſel- ben im auſſergeſellſchaftlichen Zuſtande zuſtehen wuͤrde, auch an ſich und nach der Regel im buͤrgerlichen Zuſtande vorhanden und fortdaurend ſey; nur diejenigen Faͤlle aus- genommen, da das buͤrgerliche Verhaͤltniß des Menſchen eine 8) S. von Juſti Natur und Weſen der Staaten mit Anmerkungen von H. G. Scheidemantel (Mietau 1771.) §. 150.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/140
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/140>, abgerufen am 21.11.2024.