Konte ich ihm wol wiederstehen? Malte er mir nicht zu schön sein Leiden ab?
Erlaubt mir nunmehro, geliebte Mitschwe- stern, daß ich mich mit euch unterhalte. Ihr seid so liederwürdig, als es die Schönen in Athen und Teios waren. Nehmt diese Versicherung statt des Danks an, den ich euch schuldig bin, weil ihr kein Verlangen bezeugt habt, die Lieder, womit euch mein Geliebter ergötzet hat, in Reime übersetzet zu sehn. Ihr habt sie gehöret, ohne dabei den Reichthum eines Reimregisters zu wünschen, und ihr habt dadurch bewiesen, daß der schöne Geschmakk des griechischen Frauen- zimmers, welches Anakreon besang, der eurige sei. Wie wenig Ehre würde dasselbe noch ietzo davon haben, wenn es seine Lieder in Reime übersetzet hätte! Die Frau Dacier merkte, als sie diesen Griechen in ihrer Muttersprache unter- richten wolte, wie sehr der bunte Zierrath der Reime, der edlen Einfalt seiner Gedanken scha- den würde, und sie lehrte ihn deshalb nur pro- saisch sprechen. Die Lieder des Anakreon sind unsern bescheidenen Anzügen gleich, welche wir durch die Vielfältigkeit der Farben, und der Mo- den verderben würden. Longepierre und viel andere, deren Ubersetzungen mein Geliebter oft getadelt hat, haben sie durch ihre Reime verdor-
ben.
Konte ich ihm wol wiederſtehen? Malte er mir nicht zu ſchön ſein Leiden ab?
Erlaubt mir nunmehro, geliebte Mitſchwe- ſtern, daß ich mich mit euch unterhalte. Ihr ſeid ſo liederwürdig, als es die Schönen in Athen und Teios waren. Nehmt dieſe Verſicherung ſtatt des Danks an, den ich euch ſchuldig bin, weil ihr kein Verlangen bezeugt habt, die Lieder, womit euch mein Geliebter ergötzet hat, in Reime überſetzet zu ſehn. Ihr habt ſie gehöret, ohne dabei den Reichthum eines Reimregiſters zu wünſchen, und ihr habt dadurch bewieſen, daß der ſchöne Geſchmakk des griechiſchen Frauen- zimmers, welches Anakreon beſang, der eurige ſei. Wie wenig Ehre würde daſſelbe noch ietzo davon haben, wenn es ſeine Lieder in Reime überſetzet hätte! Die Frau Dacier merkte, als ſie dieſen Griechen in ihrer Mutterſprache unter- richten wolte, wie ſehr der bunte Zierrath der Reime, der edlen Einfalt ſeiner Gedanken ſcha- den würde, und ſie lehrte ihn deshalb nur pro- ſaiſch ſprechen. Die Lieder des Anakreon ſind unſern beſcheidenen Anzügen gleich, welche wir durch die Vielfältigkeit der Farben, und der Mo- den verderben würden. Longepierre und viel andere, deren Uberſetzungen mein Geliebter oft getadelt hat, haben ſie durch ihre Reime verdor-
ben.
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[XVI/0018]
Konte ich ihm wol wiederſtehen? Malte er
mir nicht zu ſchön ſein Leiden ab?
Erlaubt mir nunmehro, geliebte Mitſchwe-
ſtern, daß ich mich mit euch unterhalte. Ihr
ſeid ſo liederwürdig, als es die Schönen in Athen
und Teios waren. Nehmt dieſe Verſicherung
ſtatt des Danks an, den ich euch ſchuldig bin,
weil ihr kein Verlangen bezeugt habt, die Lieder,
womit euch mein Geliebter ergötzet hat, in Reime
überſetzet zu ſehn. Ihr habt ſie gehöret, ohne
dabei den Reichthum eines Reimregiſters zu
wünſchen, und ihr habt dadurch bewieſen, daß
der ſchöne Geſchmakk des griechiſchen Frauen-
zimmers, welches Anakreon beſang, der eurige
ſei. Wie wenig Ehre würde daſſelbe noch ietzo
davon haben, wenn es ſeine Lieder in Reime
überſetzet hätte! Die Frau Dacier merkte, als
ſie dieſen Griechen in ihrer Mutterſprache unter-
richten wolte, wie ſehr der bunte Zierrath der
Reime, der edlen Einfalt ſeiner Gedanken ſcha-
den würde, und ſie lehrte ihn deshalb nur pro-
ſaiſch ſprechen. Die Lieder des Anakreon ſind
unſern beſcheidenen Anzügen gleich, welche wir
durch die Vielfältigkeit der Farben, und der Mo-
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Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch02_1745/18>, abgerufen am 05.07.2024.
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