Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Berlin, [1744].Auf den Tod einer Nachtigall an Herrn Naumann. Singe! Meister starker Lieder, Singe! Preiß der Nachtigallen, Singe! Liebling meines Freundes, Die gewohnten Abendlieder. Siehst du nicht? die Spree wird dunkel, Und es dient ihr helles Ufer Keiner Schönen mehr zum Spiegel; Dennoch kommen sie gepaaret, Aus Verlangen dich zu hören, Oder doch aus Lust zum Schatten. Siehst du nicht, du Freund des Schattens, Siehst du nicht die Sonne weichen? Singe doch! sie geht zur Ruhe; Singe doch den Stern zu Grabe. Vogel! nein, bei todten Gräbern Kannst du deine Lieder sparen. Nein, du bist kein Leichensänger. Du beschäm'st mit frohen Tönen Tausend Opersängerinnen; Du E
Auf den Tod einer Nachtigall an Herrn Naumann. Singe! Meiſter ſtarker Lieder, Singe! Preiß der Nachtigallen, Singe! Liebling meines Freundes, Die gewohnten Abendlieder. Siehſt du nicht? die Spree wird dunkel, Und es dient ihr helles Ufer Keiner Schoͤnen mehr zum Spiegel; Dennoch kommen ſie gepaaret, Aus Verlangen dich zu hoͤren, Oder doch aus Luſt zum Schatten. Siehſt du nicht, du Freund des Schattens, Siehſt du nicht die Sonne weichen? Singe doch! ſie geht zur Ruhe; Singe doch den Stern zu Grabe. Vogel! nein, bei todten Graͤbern Kannſt du deine Lieder ſparen. Nein, du biſt kein Leichenſaͤnger. Du beſchaͤm’ſt mit frohen Toͤnen Tauſend Operſaͤngerinnen; Du E
<TEI> <text> <body> <pb facs="#f0077" n="65"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">Auf den Tod einer Nachtigall<lb/> an<lb/> Herrn Naumann.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <l><hi rendition="#in">S</hi>inge! Meiſter ſtarker Lieder,</l><lb/> <l>Singe! Preiß der Nachtigallen,</l><lb/> <l>Singe! Liebling meines Freundes,</l><lb/> <l>Die gewohnten Abendlieder.</l><lb/> <l>Siehſt du nicht? die Spree wird dunkel,</l><lb/> <l>Und es dient ihr helles Ufer</l><lb/> <l>Keiner Schoͤnen mehr zum Spiegel;</l><lb/> <l>Dennoch kommen ſie gepaaret,</l><lb/> <l>Aus Verlangen dich zu hoͤren,</l><lb/> <l>Oder doch aus Luſt zum Schatten.</l><lb/> <l>Siehſt du nicht, du Freund des Schattens,</l><lb/> <l>Siehſt du nicht die Sonne weichen?</l><lb/> <l>Singe doch! ſie geht zur Ruhe;</l><lb/> <l>Singe doch den Stern zu Grabe.</l><lb/> <l>Vogel! nein, bei todten Graͤbern</l><lb/> <l>Kannſt du deine Lieder ſparen.</l><lb/> <l>Nein, du biſt kein Leichenſaͤnger.</l><lb/> <l>Du beſchaͤm’ſt mit frohen Toͤnen</l><lb/> <l>Tauſend Operſaͤngerinnen;</l><lb/> <fw place="bottom" type="sig">E</fw> <fw place="bottom" type="catch">Du</fw><lb/> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [65/0077]
Auf den Tod einer Nachtigall
an
Herrn Naumann.
Singe! Meiſter ſtarker Lieder,
Singe! Preiß der Nachtigallen,
Singe! Liebling meines Freundes,
Die gewohnten Abendlieder.
Siehſt du nicht? die Spree wird dunkel,
Und es dient ihr helles Ufer
Keiner Schoͤnen mehr zum Spiegel;
Dennoch kommen ſie gepaaret,
Aus Verlangen dich zu hoͤren,
Oder doch aus Luſt zum Schatten.
Siehſt du nicht, du Freund des Schattens,
Siehſt du nicht die Sonne weichen?
Singe doch! ſie geht zur Ruhe;
Singe doch den Stern zu Grabe.
Vogel! nein, bei todten Graͤbern
Kannſt du deine Lieder ſparen.
Nein, du biſt kein Leichenſaͤnger.
Du beſchaͤm’ſt mit frohen Toͤnen
Tauſend Operſaͤngerinnen;
Du
E
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch01_1744 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch01_1744/77 |
Zitationshilfe: | Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Berlin, [1744], S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gleim_versuch01_1744/77>, abgerufen am 16.02.2025. |