seyn? Neunzig male hab ich izt den Wechsel der Jahrszeiten gesehn, und wann ich zurük denke, von izt bis zur Stunde meiner Geburt, eine weite liebliche Aussicht, die sich am Ende, mir unüber- sehbar in reiner Luft verliert, o wie wallet dann mein Herz auf! Ist das Entzuken, das meine Zunge nicht stammeln kann, sind meine Freuden-Thrä- nen, ihr Götter! nicht ein zu schwacher Dank? Ach fliesst ihr Thränen, fliesst die Wangen her- unter! wenn ich zurük sehe, dann ists, als hätt' ich nur einen langen Frühling gelebt, und meine trüben Stunden waren kurze Gewitter, sie erfri- schen die Felder und beleben die Pflanzen. Nie haben schädliche Seuchen unsre Herde gemindert, nie hat ein Unfall unsre Bäume verderbt, und bey dieser Hütte hat nie ein langwierig Unglük ge- ruht. Entzükt sah ich in die Zukunft hinaus, wenn meine Kinder lächelnd auf meinem Arm spielten, oder wenn meine Hand des plappernden Kindes wankenden Fusstritt leitete; Mit Freuden-
ſeyn? Neunzig male hab ich izt den Wechſel der Jahrszeiten geſehn, und wann ich zurük denke, von izt bis zur Stunde meiner Geburt, eine weite liebliche Ausſicht, die ſich am Ende, mir unüber- ſehbar in reiner Luft verliert, o wie wallet dann mein Herz auf! Iſt das Entzuken, das meine Zunge nicht ſtammeln kann, ſind meine Freuden-Thrä- nen, ihr Götter! nicht ein zu ſchwacher Dank? Ach flieſst ihr Thränen, flieſst die Wangen her- unter! wenn ich zurük ſehe, dann iſts, als hätt’ ich nur einen langen Frühling gelebt, und meine trüben Stunden waren kurze Gewitter, ſie erfri- ſchen die Felder und beleben die Pflanzen. Nie haben ſchädliche Seuchen unſre Herde gemindert, nie hat ein Unfall unſre Bäume verderbt, und bey dieſer Hütte hat nie ein langwierig Unglük ge- ruht. Entzükt ſah ich in die Zukunft hinaus, wenn meine Kinder lächelnd auf meinem Arm ſpielten, oder wenn meine Hand des plappernden Kindes wankenden Fuſstritt leitete; Mit Freuden-
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ſeyn? Neunzig male hab ich izt den Wechſel der
Jahrszeiten geſehn, und wann ich zurük denke,
von izt bis zur Stunde meiner Geburt, eine weite
liebliche Ausſicht, die ſich am Ende, mir unüber-
ſehbar in reiner Luft verliert, o wie wallet dann
mein Herz auf! Iſt das Entzuken, das meine Zunge
nicht ſtammeln kann, ſind meine Freuden-Thrä-
nen, ihr Götter! nicht ein zu ſchwacher Dank?
Ach flieſst ihr Thränen, flieſst die Wangen her-
unter! wenn ich zurük ſehe, dann iſts, als hätt’
ich nur einen langen Frühling gelebt, und meine
trüben Stunden waren kurze Gewitter, ſie erfri-
ſchen die Felder und beleben die Pflanzen. Nie
haben ſchädliche Seuchen unſre Herde gemindert,
nie hat ein Unfall unſre Bäume verderbt, und bey
dieſer Hütte hat nie ein langwierig Unglük ge-
ruht. Entzükt ſah ich in die Zukunft hinaus,
wenn meine Kinder lächelnd auf meinem Arm
ſpielten, oder wenn meine Hand des plappernden
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[Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/68>, abgerufen am 04.07.2024.
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