Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Gräfinn von G**
eine alte Schifferinn auf eben der Wiese, wo er
von mir gewichen, und auf der er schon zween
Tage zugebracht, in der größten Verzweiflung
angetroffen und ihn mit sich in ihre Hütte genom-
men. Hier hätte er, da er ohnedieß nichts mehr
zu leben gehabt, sein Elend durch den Selbstmord
endigen und sich zugleich für seine Bosheit be-
strafen wollen. Es steht bey ihnen, fuhr sie fort,
ob sie ihm durch ihre Wohlthaten das Leben und
mich wiedergeben wollen. Jch liebe ihn, als ob
er mich nie beleidiget hätte, allein (hier sah sie
mich an) sie zu verlassen, das kann ich nicht - -
Sie verdiente unsere Gewogenheit und unser Ver-
gnügen über ihr Glück. Wir liessen ihren Lieb-
haber in das Haus neben uns bringen und be-
suchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war
nicht gefährlich, und die Freude, seine Geliebte
wieder gefunden zu haben, hatte ihm so viel Leb-
haftigkeit ertheilt, daß er mit uns sprechen und
uns seinen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns
alles erzählen; allein wir waren mit seiner Reue
zufrieden und erliessen ihm die Schaam, sein
eigner Ankläger zu werden. Wir sahen in seinem
zerstreuten und ausgezehrten Gesichte noch Spu-
ren genug von einer angenehmen Bildung und
einem zärtlichen Herzen. Er war noch nicht vier
und zwanzig Jahr alt und wegen seiner Jugend
der Vergebung und des Mitleids desto wür-
diger.

Den Rest des Abends brachten wir mit einer
Musik zu, die wir uns selber machten. Jch spiel-
te den Flügel, und bald sang ich selbst, bald Amalie,

oder
H 3

Graͤfinn von G**
eine alte Schifferinn auf eben der Wieſe, wo er
von mir gewichen, und auf der er ſchon zween
Tage zugebracht, in der groͤßten Verzweiflung
angetroffen und ihn mit ſich in ihre Huͤtte genom-
men. Hier haͤtte er, da er ohnedieß nichts mehr
zu leben gehabt, ſein Elend durch den Selbſtmord
endigen und ſich zugleich fuͤr ſeine Bosheit be-
ſtrafen wollen. Es ſteht bey ihnen, fuhr ſie fort,
ob ſie ihm durch ihre Wohlthaten das Leben und
mich wiedergeben wollen. Jch liebe ihn, als ob
er mich nie beleidiget haͤtte, allein (hier ſah ſie
mich an) ſie zu verlaſſen, das kann ich nicht ‒ ‒
Sie verdiente unſere Gewogenheit und unſer Ver-
gnuͤgen uͤber ihr Gluͤck. Wir lieſſen ihren Lieb-
haber in das Haus neben uns bringen und be-
ſuchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war
nicht gefaͤhrlich, und die Freude, ſeine Geliebte
wieder gefunden zu haben, hatte ihm ſo viel Leb-
haftigkeit ertheilt, daß er mit uns ſprechen und
uns ſeinen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns
alles erzaͤhlen; allein wir waren mit ſeiner Reue
zufrieden und erlieſſen ihm die Schaam, ſein
eigner Anklaͤger zu werden. Wir ſahen in ſeinem
zerſtreuten und ausgezehrten Geſichte noch Spu-
ren genug von einer angenehmen Bildung und
einem zaͤrtlichen Herzen. Er war noch nicht vier
und zwanzig Jahr alt und wegen ſeiner Jugend
der Vergebung und des Mitleids deſto wuͤr-
diger.

Den Reſt des Abends brachten wir mit einer
Muſik zu, die wir uns ſelber machten. Jch ſpiel-
te den Fluͤgel, und bald ſang ich ſelbſt, bald Amalie,

oder
H 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0117" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Gra&#x0364;finn von G**</hi></fw><lb/>
eine alte Schifferinn auf eben der Wie&#x017F;e, wo er<lb/>
von mir gewichen, und auf der er &#x017F;chon zween<lb/>
Tage zugebracht, in der gro&#x0364;ßten Verzweiflung<lb/>
angetroffen und ihn mit &#x017F;ich in ihre Hu&#x0364;tte genom-<lb/>
men. Hier ha&#x0364;tte er, da er ohnedieß nichts mehr<lb/>
zu leben gehabt, &#x017F;ein Elend durch den Selb&#x017F;tmord<lb/>
endigen und &#x017F;ich zugleich fu&#x0364;r &#x017F;eine Bosheit be-<lb/>
&#x017F;trafen wollen. Es &#x017F;teht bey ihnen, fuhr &#x017F;ie fort,<lb/>
ob &#x017F;ie ihm durch ihre Wohlthaten das Leben und<lb/>
mich wiedergeben wollen. Jch liebe ihn, als ob<lb/>
er mich nie beleidiget ha&#x0364;tte, allein (hier &#x017F;ah &#x017F;ie<lb/>
mich an) &#x017F;ie zu verla&#x017F;&#x017F;en, das kann ich nicht &#x2012; &#x2012;<lb/>
Sie verdiente un&#x017F;ere Gewogenheit und un&#x017F;er Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen u&#x0364;ber ihr Glu&#x0364;ck. Wir lie&#x017F;&#x017F;en ihren Lieb-<lb/>
haber in das Haus neben uns bringen und be-<lb/>
&#x017F;uchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war<lb/>
nicht gefa&#x0364;hrlich, und die Freude, &#x017F;eine Geliebte<lb/>
wieder gefunden zu haben, hatte ihm &#x017F;o viel Leb-<lb/>
haftigkeit ertheilt, daß er mit uns &#x017F;prechen und<lb/>
uns &#x017F;einen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns<lb/>
alles erza&#x0364;hlen; allein wir waren mit &#x017F;einer Reue<lb/>
zufrieden und erlie&#x017F;&#x017F;en ihm die Schaam, &#x017F;ein<lb/>
eigner Ankla&#x0364;ger zu werden. Wir &#x017F;ahen in &#x017F;einem<lb/>
zer&#x017F;treuten und ausgezehrten Ge&#x017F;ichte noch Spu-<lb/>
ren genug von einer angenehmen Bildung und<lb/>
einem za&#x0364;rtlichen Herzen. Er war noch nicht vier<lb/>
und zwanzig Jahr alt und wegen &#x017F;einer Jugend<lb/>
der Vergebung und des Mitleids de&#x017F;to wu&#x0364;r-<lb/>
diger.</p><lb/>
      <p>Den Re&#x017F;t des Abends brachten wir mit einer<lb/>
Mu&#x017F;ik zu, die wir uns &#x017F;elber machten. Jch &#x017F;piel-<lb/>
te den Flu&#x0364;gel, und bald &#x017F;ang ich &#x017F;elb&#x017F;t, bald Amalie,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 3</fw><fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0117] Graͤfinn von G** eine alte Schifferinn auf eben der Wieſe, wo er von mir gewichen, und auf der er ſchon zween Tage zugebracht, in der groͤßten Verzweiflung angetroffen und ihn mit ſich in ihre Huͤtte genom- men. Hier haͤtte er, da er ohnedieß nichts mehr zu leben gehabt, ſein Elend durch den Selbſtmord endigen und ſich zugleich fuͤr ſeine Bosheit be- ſtrafen wollen. Es ſteht bey ihnen, fuhr ſie fort, ob ſie ihm durch ihre Wohlthaten das Leben und mich wiedergeben wollen. Jch liebe ihn, als ob er mich nie beleidiget haͤtte, allein (hier ſah ſie mich an) ſie zu verlaſſen, das kann ich nicht ‒ ‒ Sie verdiente unſere Gewogenheit und unſer Ver- gnuͤgen uͤber ihr Gluͤck. Wir lieſſen ihren Lieb- haber in das Haus neben uns bringen und be- ſuchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war nicht gefaͤhrlich, und die Freude, ſeine Geliebte wieder gefunden zu haben, hatte ihm ſo viel Leb- haftigkeit ertheilt, daß er mit uns ſprechen und uns ſeinen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns alles erzaͤhlen; allein wir waren mit ſeiner Reue zufrieden und erlieſſen ihm die Schaam, ſein eigner Anklaͤger zu werden. Wir ſahen in ſeinem zerſtreuten und ausgezehrten Geſichte noch Spu- ren genug von einer angenehmen Bildung und einem zaͤrtlichen Herzen. Er war noch nicht vier und zwanzig Jahr alt und wegen ſeiner Jugend der Vergebung und des Mitleids deſto wuͤr- diger. Den Reſt des Abends brachten wir mit einer Muſik zu, die wir uns ſelber machten. Jch ſpiel- te den Fluͤgel, und bald ſang ich ſelbſt, bald Amalie, oder H 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/117
Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/117>, abgerufen am 06.05.2024.