Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G.***. Bd. 1. Leipzig, 1747.

Bild:
<< vorherige Seite

Gräfinn von G **
Genug, er gefiel mir, und ich fand jeden
Tag in seinem Umgange eine neue Ur-
sache, ihn zu lieben. Er war nahe an
vierzig Jahre, und er hatte seit der Zeit,
daß ich ihn bey meinem Gemahle kennen
lernen, sich gar nicht von Person geän-
dert. Seine ordentliche und stille Le-
bensart erhielten ihn so gesund, als ob
er erst zu leben anfieng. Wer war
glücklicher, als wir! Unser Glück fiel nie-
manden in die Augen, und desto ruhiger
konnten wir es genießen. Wir lebten
ohne zu befehlen, und ohne zu gehor-
chen. Wir durften niemanden von un-
sern Handlungen Rechenschaft geben, als
uns selbst. Wir hatten mehr, als wir
begehrten, und also genug, andern wohl
zu thun. Wir hatten eine Gesellschaft,
die sich zu unsern Neigungen schickte.
Wir lebten an dem volkreichsten Orte
in der größten Stille. Dieses war un-
ser Verlangen. Wir konnten uns beyde
mit dem edelsten Zeitvertreibe, mit Lesen

und

Gräfinn von G **
Genug, er gefiel mir, und ich fand jeden
Tag in ſeinem Umgange eine neue Ur-
ſache, ihn zu lieben. Er war nahe an
vierzig Jahre, und er hatte ſeit der Zeit,
daß ich ihn bey meinem Gemahle kennen
lernen, ſich gar nicht von Perſon geän-
dert. Seine ordentliche und ſtille Le-
bensart erhielten ihn ſo geſund, als ob
er erſt zu leben anfieng. Wer war
glücklicher, als wir! Unſer Glück fiel nie-
manden in die Augen, und deſto ruhiger
konnten wir es genießen. Wir lebten
ohne zu befehlen, und ohne zu gehor-
chen. Wir durften niemanden von un-
ſern Handlungen Rechenſchaft geben, als
uns ſelbſt. Wir hatten mehr, als wir
begehrten, und alſo genug, andern wohl
zu thun. Wir hatten eine Geſellſchaft,
die ſich zu unſern Neigungen ſchickte.
Wir lebten an dem volkreichſten Orte
in der größten Stille. Dieſes war un-
ſer Verlangen. Wir konnten uns beyde
mit dem edelſten Zeitvertreibe, mit Leſen

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0077" n="77"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Gräfinn von G **</hi></fw><lb/>
Genug, er gefiel mir, und ich fand jeden<lb/>
Tag in &#x017F;einem Umgange eine neue Ur-<lb/>
&#x017F;ache, ihn zu lieben. Er war nahe an<lb/>
vierzig Jahre, und er hatte &#x017F;eit der Zeit,<lb/>
daß ich ihn bey meinem Gemahle kennen<lb/>
lernen, &#x017F;ich gar nicht von Per&#x017F;on geän-<lb/>
dert. Seine ordentliche und &#x017F;tille Le-<lb/>
bensart erhielten ihn &#x017F;o ge&#x017F;und, als ob<lb/>
er er&#x017F;t zu leben anfieng. Wer war<lb/>
glücklicher, als wir! Un&#x017F;er Glück fiel nie-<lb/>
manden in die Augen, und de&#x017F;to ruhiger<lb/>
konnten wir es genießen. Wir lebten<lb/>
ohne zu befehlen, und ohne zu gehor-<lb/>
chen. Wir durften niemanden von un-<lb/>
&#x017F;ern Handlungen Rechen&#x017F;chaft geben, als<lb/>
uns &#x017F;elb&#x017F;t. Wir hatten mehr, als wir<lb/>
begehrten, und al&#x017F;o genug, andern wohl<lb/>
zu thun. Wir hatten eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft,<lb/>
die &#x017F;ich zu un&#x017F;ern Neigungen &#x017F;chickte.<lb/>
Wir lebten an dem volkreich&#x017F;ten Orte<lb/>
in der größten Stille. Die&#x017F;es war un-<lb/>
&#x017F;er Verlangen. Wir konnten uns beyde<lb/>
mit dem edel&#x017F;ten Zeitvertreibe, mit Le&#x017F;en<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0077] Gräfinn von G ** Genug, er gefiel mir, und ich fand jeden Tag in ſeinem Umgange eine neue Ur- ſache, ihn zu lieben. Er war nahe an vierzig Jahre, und er hatte ſeit der Zeit, daß ich ihn bey meinem Gemahle kennen lernen, ſich gar nicht von Perſon geän- dert. Seine ordentliche und ſtille Le- bensart erhielten ihn ſo geſund, als ob er erſt zu leben anfieng. Wer war glücklicher, als wir! Unſer Glück fiel nie- manden in die Augen, und deſto ruhiger konnten wir es genießen. Wir lebten ohne zu befehlen, und ohne zu gehor- chen. Wir durften niemanden von un- ſern Handlungen Rechenſchaft geben, als uns ſelbſt. Wir hatten mehr, als wir begehrten, und alſo genug, andern wohl zu thun. Wir hatten eine Geſellſchaft, die ſich zu unſern Neigungen ſchickte. Wir lebten an dem volkreichſten Orte in der größten Stille. Dieſes war un- ſer Verlangen. Wir konnten uns beyde mit dem edelſten Zeitvertreibe, mit Leſen und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben01_1747
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben01_1747/77
Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G.***. Bd. 1. Leipzig, 1747, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben01_1747/77>, abgerufen am 03.05.2024.