Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799.

Bild:
<< vorherige Seite


Lagen gegen die Axe des Augapfels haben. Diese Voraussetzung kan man aber nicht annehmen. Es kömmt hiebey nicht auf Lage gegen die Axe, sondern darauf an, ob die Bilder auf solche Punkte der Netzhaut fallen, welche sich durch lange Uebung zusammen gewöhnt haben, und dadurch das geworden sind, was ich bey dem Worte Horopter (Th. II. S. 652.) übereinstimmende oder zusammengehörige Punkte nenne. Fallen die Bilder auf solche Punkte, so urtheilt der Sehende, die Sache sey nur einmal da, weil er längst belehrt ist, das so Gesehene sey nur einzeln vorhanden. Eben so urtheilt der Schielende auch; aber bey ihm haben sich durch die beständig falsche Richtung der Augen Punkte zusammen gewöhnt, welche gegen die Axe und gegen die geometrische Mitte der beyden Netzhäute ganz verschiedene Lagen haben. Er sieht also den Gegenstand auch nur einfach, dieser verschiedenen Lage der Bilder ungeachtet. Das Argument würde treffend seyn, wenn die Uebereinstimmung der Punkte in beyden Augen durch eine natürliche Einrichtung bestimmt und von ihrer Lage gegen die Mitte abhängig gemacht wäre. Es scheint aber diese Uebereinstimmung vielmehr durch Gewohnheit bestimmt zu werden, und wenn dieses ist, so können sich durch unregelmäßiges Sehen Punkte zusammen gewöhnen, die gegen die Mitte in beyden Augen ganz verschieden liegen.

Ich will jedoch damit nicht behaupten, daß dieses bey allen Schielenden der Fall sey. Nach Jurin, Buffon und Reid suchen vielmehr die Schielenden das eine Auge gar nicht zu brauchen; eben deshalb wenden sie es so weit nach der Seite, oder unter das obere Augenlied, daß ihm der Gegenstand unsichtbar wird. In diesem Falle aber ist nur ein Bild vorhanden, und es kan also von übereinstimmenden Punkten und vom Doppeltsehen gar nicht die Rede seyn.

D. Reid empfiehlt eilf Umstände, auf welche man bey Schielenden Acht haben müsse, um eine richtige Einsicht in die Natur ihrer Krankheit zu erlangen. Adams (Anweisung zur Erhaltung des Gesichts; a. d. Engl. von Friedr. Kries. Gotha, 1794. 8. S. 167 u. f.) hat sie sämmtlich angeführt.


Lagen gegen die Axe des Augapfels haben. Dieſe Vorausſetzung kan man aber nicht annehmen. Es koͤmmt hiebey nicht auf Lage gegen die Axe, ſondern darauf an, ob die Bilder auf ſolche Punkte der Netzhaut fallen, welche ſich durch lange Uebung zuſammen gewoͤhnt haben, und dadurch das geworden ſind, was ich bey dem Worte Horopter (Th. II. S. 652.) uͤbereinſtimmende oder zuſammengehoͤrige Punkte nenne. Fallen die Bilder auf ſolche Punkte, ſo urtheilt der Sehende, die Sache ſey nur einmal da, weil er laͤngſt belehrt iſt, das ſo Geſehene ſey nur einzeln vorhanden. Eben ſo urtheilt der Schielende auch; aber bey ihm haben ſich durch die beſtaͤndig falſche Richtung der Augen Punkte zuſammen gewoͤhnt, welche gegen die Axe und gegen die geometriſche Mitte der beyden Netzhaͤute ganz verſchiedene Lagen haben. Er ſieht alſo den Gegenſtand auch nur einfach, dieſer verſchiedenen Lage der Bilder ungeachtet. Das Argument wuͤrde treffend ſeyn, wenn die Uebereinſtimmung der Punkte in beyden Augen durch eine natuͤrliche Einrichtung beſtimmt und von ihrer Lage gegen die Mitte abhaͤngig gemacht waͤre. Es ſcheint aber dieſe Uebereinſtimmung vielmehr durch Gewohnheit beſtimmt zu werden, und wenn dieſes iſt, ſo koͤnnen ſich durch unregelmaͤßiges Sehen Punkte zuſammen gewoͤhnen, die gegen die Mitte in beyden Augen ganz verſchieden liegen.

Ich will jedoch damit nicht behaupten, daß dieſes bey allen Schielenden der Fall ſey. Nach Jurin, Buffon und Reid ſuchen vielmehr die Schielenden das eine Auge gar nicht zu brauchen; eben deshalb wenden ſie es ſo weit nach der Seite, oder unter das obere Augenlied, daß ihm der Gegenſtand unſichtbar wird. In dieſem Falle aber iſt nur ein Bild vorhanden, und es kan alſo von uͤbereinſtimmenden Punkten und vom Doppeltſehen gar nicht die Rede ſeyn.

D. Reid empfiehlt eilf Umſtaͤnde, auf welche man bey Schielenden Acht haben muͤſſe, um eine richtige Einſicht in die Natur ihrer Krankheit zu erlangen. Adams (Anweiſung zur Erhaltung des Geſichts; a. d. Engl. von Friedr. Kries. Gotha, 1794. 8. S. 167 u. f.) hat ſie ſaͤmmtlich angefuͤhrt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="2">
              <p><pb facs="#f0830" xml:id="P.5.818" n="818"/><lb/>
Lagen gegen die Axe des Augapfels haben. Die&#x017F;e Voraus&#x017F;etzung kan man aber nicht annehmen. Es ko&#x0364;mmt hiebey nicht auf Lage gegen die Axe, &#x017F;ondern darauf an, ob die Bilder auf &#x017F;olche Punkte der Netzhaut fallen, welche &#x017F;ich durch lange Uebung zu&#x017F;ammen gewo&#x0364;hnt haben, und dadurch das geworden &#x017F;ind, was ich bey dem Worte <hi rendition="#b">Horopter</hi> (Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 652.) u&#x0364;berein&#x017F;timmende oder zu&#x017F;ammengeho&#x0364;rige Punkte nenne. Fallen die Bilder auf &#x017F;olche Punkte, &#x017F;o urtheilt der Sehende, die Sache &#x017F;ey nur einmal da, weil er la&#x0364;ng&#x017F;t belehrt i&#x017F;t, das &#x017F;o Ge&#x017F;ehene &#x017F;ey nur einzeln vorhanden. Eben &#x017F;o urtheilt der Schielende auch; aber bey ihm haben &#x017F;ich durch die be&#x017F;ta&#x0364;ndig fal&#x017F;che Richtung der Augen Punkte zu&#x017F;ammen gewo&#x0364;hnt, welche gegen die Axe und gegen die geometri&#x017F;che Mitte der beyden Netzha&#x0364;ute ganz ver&#x017F;chiedene Lagen haben. Er &#x017F;ieht al&#x017F;o den Gegen&#x017F;tand auch nur einfach, die&#x017F;er ver&#x017F;chiedenen Lage der Bilder ungeachtet. Das Argument wu&#x0364;rde treffend &#x017F;eyn, wenn die Ueberein&#x017F;timmung der Punkte in beyden Augen durch eine natu&#x0364;rliche Einrichtung be&#x017F;timmt und von ihrer Lage gegen die Mitte abha&#x0364;ngig gemacht wa&#x0364;re. Es &#x017F;cheint aber die&#x017F;e Ueberein&#x017F;timmung vielmehr durch Gewohnheit be&#x017F;timmt zu werden, und wenn die&#x017F;es i&#x017F;t, &#x017F;o ko&#x0364;nnen &#x017F;ich durch unregelma&#x0364;ßiges Sehen Punkte zu&#x017F;ammen gewo&#x0364;hnen, die gegen die Mitte in beyden Augen ganz ver&#x017F;chieden liegen.</p>
              <p>Ich will jedoch damit nicht behaupten, daß die&#x017F;es bey allen Schielenden der Fall &#x017F;ey. Nach <hi rendition="#b">Jurin, Buffon</hi> und <hi rendition="#b">Reid</hi> &#x017F;uchen vielmehr die Schielenden das eine Auge gar nicht zu brauchen; eben deshalb wenden &#x017F;ie es &#x017F;o weit nach der Seite, oder unter das obere Augenlied, daß ihm der Gegen&#x017F;tand un&#x017F;ichtbar wird. In die&#x017F;em Falle aber i&#x017F;t nur ein Bild vorhanden, und es kan al&#x017F;o von u&#x0364;berein&#x017F;timmenden Punkten und vom Doppelt&#x017F;ehen gar nicht die Rede &#x017F;eyn.</p>
              <p>D. <hi rendition="#b">Reid</hi> empfiehlt eilf Um&#x017F;ta&#x0364;nde, auf welche man bey Schielenden Acht haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, um eine richtige Ein&#x017F;icht in die Natur ihrer Krankheit zu erlangen. <hi rendition="#b">Adams</hi> (Anwei&#x017F;ung zur Erhaltung des Ge&#x017F;ichts; a. d. Engl. von <hi rendition="#b">Friedr. Kries.</hi> Gotha, 1794. 8. S. 167 u. f.) hat &#x017F;ie &#x017F;a&#x0364;mmtlich angefu&#x0364;hrt.<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[818/0830] Lagen gegen die Axe des Augapfels haben. Dieſe Vorausſetzung kan man aber nicht annehmen. Es koͤmmt hiebey nicht auf Lage gegen die Axe, ſondern darauf an, ob die Bilder auf ſolche Punkte der Netzhaut fallen, welche ſich durch lange Uebung zuſammen gewoͤhnt haben, und dadurch das geworden ſind, was ich bey dem Worte Horopter (Th. II. S. 652.) uͤbereinſtimmende oder zuſammengehoͤrige Punkte nenne. Fallen die Bilder auf ſolche Punkte, ſo urtheilt der Sehende, die Sache ſey nur einmal da, weil er laͤngſt belehrt iſt, das ſo Geſehene ſey nur einzeln vorhanden. Eben ſo urtheilt der Schielende auch; aber bey ihm haben ſich durch die beſtaͤndig falſche Richtung der Augen Punkte zuſammen gewoͤhnt, welche gegen die Axe und gegen die geometriſche Mitte der beyden Netzhaͤute ganz verſchiedene Lagen haben. Er ſieht alſo den Gegenſtand auch nur einfach, dieſer verſchiedenen Lage der Bilder ungeachtet. Das Argument wuͤrde treffend ſeyn, wenn die Uebereinſtimmung der Punkte in beyden Augen durch eine natuͤrliche Einrichtung beſtimmt und von ihrer Lage gegen die Mitte abhaͤngig gemacht waͤre. Es ſcheint aber dieſe Uebereinſtimmung vielmehr durch Gewohnheit beſtimmt zu werden, und wenn dieſes iſt, ſo koͤnnen ſich durch unregelmaͤßiges Sehen Punkte zuſammen gewoͤhnen, die gegen die Mitte in beyden Augen ganz verſchieden liegen. Ich will jedoch damit nicht behaupten, daß dieſes bey allen Schielenden der Fall ſey. Nach Jurin, Buffon und Reid ſuchen vielmehr die Schielenden das eine Auge gar nicht zu brauchen; eben deshalb wenden ſie es ſo weit nach der Seite, oder unter das obere Augenlied, daß ihm der Gegenſtand unſichtbar wird. In dieſem Falle aber iſt nur ein Bild vorhanden, und es kan alſo von uͤbereinſtimmenden Punkten und vom Doppeltſehen gar nicht die Rede ſeyn. D. Reid empfiehlt eilf Umſtaͤnde, auf welche man bey Schielenden Acht haben muͤſſe, um eine richtige Einſicht in die Natur ihrer Krankheit zu erlangen. Adams (Anweiſung zur Erhaltung des Geſichts; a. d. Engl. von Friedr. Kries. Gotha, 1794. 8. S. 167 u. f.) hat ſie ſaͤmmtlich angefuͤhrt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch05_1799
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch05_1799/830
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799, S. 818. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch05_1799/830>, abgerufen am 16.06.2024.