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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

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Flüsse mit sich fortführen, und die Eisberge, die sich bisweilen durch die von den Wellen über einander geworfenen Eisschollen auf den Strömen oder mitten in den Eismeeren bilden. So hatte sich im Jahre 1608 in Lyon auf der Saone ein solcher Eisberg angehäuft; man kan über das vermeintliche Wunder seiner Zerstörung (welche allem Vermuthen nach durch Petarden bewirkt wurde) des Mezeray Auszug der Geschichte von Frankreich bey diesem Jahre nachlesen.

Es ist leicht zu erklären, warum die Kälte empfindlicher zu werden scheint, wenn sie ihrem Ende nahe ist, und Thauwetter bevorsteht. Dies ist mehrentheils nur Täuschung der Sinne, wie das Thermometer beweiset, welches fast allezeit zu Anfang des Thauwetters steiget. Es verbreitet sich aber alsdann in der Luft eine so große Menge Wassertheilchen oder kleiner zerschmolzener Eisstückchen, welche noch sehr kalt und dicht sind, daß dieselben, indem sie sich genauer, als die Luft, an unsere Haut anlegen, eine Empfindung von Kälte erregen, welche die Luft vorher nicht verursachte. So scheint uns ein Nebel, der in der That wärmer, als die umgebende reine Luft, ist, dennoch weit kälter, als diese. Zwar steht auch gewöhnlich das Thermometer nie tiefer, als kurz vor dem Thauwetter; das kömmt aber daher, weil die Kälte, die zugleich Ursache und Wirkung des Frostes ist, fast immer wächst, bis das Thauwetter einfällt. Gleichwohl kan man auch nicht läugnen, daß sich in dem Augenblicke, da das Eis eines ganzen Landes aufgeht, eine wirkliche Kälte durch die Luft verbreitet. Mairan erklärt dieses cartesianisch aus der Menge subtiler Materie, welche alsdann auf die Zerschmelzung verwendet, und der Luft und den Körpern entzogen werde: setzt man hier freye Wärme für subtile Materie, so ist es die beste Erklärung, die man nach den jetzigen Vorstellungsarten von diesem Phänomen geben kan.

In den gemäßigten Himmelsstrichen scheinen Frost und Thauwetter blos zufällig zu seyn. Die allgemeine Ursache des Wechsels der Jahrzeiten ist hier nicht stark genug, um beydes zu bestimmten periodischen Zeiten, oder auf eine beständige


Fluͤſſe mit ſich fortfuͤhren, und die Eisberge, die ſich bisweilen durch die von den Wellen uͤber einander geworfenen Eisſchollen auf den Stroͤmen oder mitten in den Eismeeren bilden. So hatte ſich im Jahre 1608 in Lyon auf der Saone ein ſolcher Eisberg angehaͤuft; man kan uͤber das vermeintliche Wunder ſeiner Zerſtoͤrung (welche allem Vermuthen nach durch Petarden bewirkt wurde) des Mezeray Auszug der Geſchichte von Frankreich bey dieſem Jahre nachleſen.

Es iſt leicht zu erklaͤren, warum die Kaͤlte empfindlicher zu werden ſcheint, wenn ſie ihrem Ende nahe iſt, und Thauwetter bevorſteht. Dies iſt mehrentheils nur Taͤuſchung der Sinne, wie das Thermometer beweiſet, welches faſt allezeit zu Anfang des Thauwetters ſteiget. Es verbreitet ſich aber alsdann in der Luft eine ſo große Menge Waſſertheilchen oder kleiner zerſchmolzener Eisſtuͤckchen, welche noch ſehr kalt und dicht ſind, daß dieſelben, indem ſie ſich genauer, als die Luft, an unſere Haut anlegen, eine Empfindung von Kaͤlte erregen, welche die Luft vorher nicht verurſachte. So ſcheint uns ein Nebel, der in der That waͤrmer, als die umgebende reine Luft, iſt, dennoch weit kaͤlter, als dieſe. Zwar ſteht auch gewoͤhnlich das Thermometer nie tiefer, als kurz vor dem Thauwetter; das koͤmmt aber daher, weil die Kaͤlte, die zugleich Urſache und Wirkung des Froſtes iſt, faſt immer waͤchſt, bis das Thauwetter einfaͤllt. Gleichwohl kan man auch nicht laͤugnen, daß ſich in dem Augenblicke, da das Eis eines ganzen Landes aufgeht, eine wirkliche Kaͤlte durch die Luft verbreitet. Mairan erklaͤrt dieſes carteſianiſch aus der Menge ſubtiler Materie, welche alsdann auf die Zerſchmelzung verwendet, und der Luft und den Koͤrpern entzogen werde: ſetzt man hier freye Waͤrme fuͤr ſubtile Materie, ſo iſt es die beſte Erklaͤrung, die man nach den jetzigen Vorſtellungsarten von dieſem Phaͤnomen geben kan.

In den gemaͤßigten Himmelsſtrichen ſcheinen Froſt und Thauwetter blos zufaͤllig zu ſeyn. Die allgemeine Urſache des Wechſels der Jahrzeiten iſt hier nicht ſtark genug, um beydes zu beſtimmten periodiſchen Zeiten, oder auf eine beſtaͤndige

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[298/0308] Fluͤſſe mit ſich fortfuͤhren, und die Eisberge, die ſich bisweilen durch die von den Wellen uͤber einander geworfenen Eisſchollen auf den Stroͤmen oder mitten in den Eismeeren bilden. So hatte ſich im Jahre 1608 in Lyon auf der Saone ein ſolcher Eisberg angehaͤuft; man kan uͤber das vermeintliche Wunder ſeiner Zerſtoͤrung (welche allem Vermuthen nach durch Petarden bewirkt wurde) des Mezeray Auszug der Geſchichte von Frankreich bey dieſem Jahre nachleſen. Es iſt leicht zu erklaͤren, warum die Kaͤlte empfindlicher zu werden ſcheint, wenn ſie ihrem Ende nahe iſt, und Thauwetter bevorſteht. Dies iſt mehrentheils nur Taͤuſchung der Sinne, wie das Thermometer beweiſet, welches faſt allezeit zu Anfang des Thauwetters ſteiget. Es verbreitet ſich aber alsdann in der Luft eine ſo große Menge Waſſertheilchen oder kleiner zerſchmolzener Eisſtuͤckchen, welche noch ſehr kalt und dicht ſind, daß dieſelben, indem ſie ſich genauer, als die Luft, an unſere Haut anlegen, eine Empfindung von Kaͤlte erregen, welche die Luft vorher nicht verurſachte. So ſcheint uns ein Nebel, der in der That waͤrmer, als die umgebende reine Luft, iſt, dennoch weit kaͤlter, als dieſe. Zwar ſteht auch gewoͤhnlich das Thermometer nie tiefer, als kurz vor dem Thauwetter; das koͤmmt aber daher, weil die Kaͤlte, die zugleich Urſache und Wirkung des Froſtes iſt, faſt immer waͤchſt, bis das Thauwetter einfaͤllt. Gleichwohl kan man auch nicht laͤugnen, daß ſich in dem Augenblicke, da das Eis eines ganzen Landes aufgeht, eine wirkliche Kaͤlte durch die Luft verbreitet. Mairan erklaͤrt dieſes carteſianiſch aus der Menge ſubtiler Materie, welche alsdann auf die Zerſchmelzung verwendet, und der Luft und den Koͤrpern entzogen werde: ſetzt man hier freye Waͤrme fuͤr ſubtile Materie, ſo iſt es die beſte Erklaͤrung, die man nach den jetzigen Vorſtellungsarten von dieſem Phaͤnomen geben kan. In den gemaͤßigten Himmelsſtrichen ſcheinen Froſt und Thauwetter blos zufaͤllig zu ſeyn. Die allgemeine Urſache des Wechſels der Jahrzeiten iſt hier nicht ſtark genug, um beydes zu beſtimmten periodiſchen Zeiten, oder auf eine beſtaͤndige

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/308>, abgerufen am 22.11.2024.