Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.
Das erste Merkmal einer guten Hypothese ist ihre Simplicität, wenn sie nemlich die Erscheinungen, um deren willen sie gemacht ist, durch die leichtesten und geschwindesten Mittel, mit der größten Ersparniß, und ohne Einführung neuer Substanzen oder Kräfte, erklärt. Eine gute Hypothese muß ferner in Analogie mit den bekannten Gesetzen der Welt stehen. Die Natur ist nie mit sich selbst im Widerspruche, und in allen ihren Werken erblickt man Züge eines allgemeinen Plans, in welchem kein Theil gegen den andern streitet. Findet man also Aehnlichkeit und Uebereinstimmung zwischen Gesetzen, die man feststellen will, und denjenigen, die schon entdeckt und bestätiget sind, so kan man die vermutheten Gesetze für wahrscheinlich halten. Aehnliche Wirkungen verrathen fast immer auch ähnliche Ursachen. Dies giebt der copernikanischen Hypothese ein so großes Uebergewicht über die tychonische, obgleich beyde die Erscheinungen erklären. In jener ist alles Folge eines einzigen Grundsatzes, und jede Erklärung stimmt mit den andern überein; in dieser hingegen ist wider die Analogie das Große dem Kleinen untergeordnet, und Wirkungen, welche ganz ähnlich scheinen, müssen mit beträchtlichen Verschiedenheiten erklärt werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese steht ferner<*> im Verhältnisse mit der Menge der Fälle, die sie erklärt; sie nähert sich nemlich in eben diesem Verhältnisse der wahren Ursache, welche alle Fälle erklären würde. Auch ist diese Wahrscheinlichkeit desto größer, je genauer die Resultate, die sich aus der Hypothese und aus richtigen Beobachtungen ziehen lassen, mit der Erfahrung übereinstimmen.
Das erſte Merkmal einer guten Hypotheſe iſt ihre Simplicitaͤt, wenn ſie nemlich die Erſcheinungen, um deren willen ſie gemacht iſt, durch die leichteſten und geſchwindeſten Mittel, mit der groͤßten Erſparniß, und ohne Einfuͤhrung neuer Subſtanzen oder Kraͤfte, erklaͤrt. Eine gute Hypotheſe muß ferner in Analogie mit den bekannten Geſetzen der Welt ſtehen. Die Natur iſt nie mit ſich ſelbſt im Widerſpruche, und in allen ihren Werken erblickt man Zuͤge eines allgemeinen Plans, in welchem kein Theil gegen den andern ſtreitet. Findet man alſo Aehnlichkeit und Uebereinſtimmung zwiſchen Geſetzen, die man feſtſtellen will, und denjenigen, die ſchon entdeckt und beſtaͤtiget ſind, ſo kan man die vermutheten Geſetze fuͤr wahrſcheinlich halten. Aehnliche Wirkungen verrathen faſt immer auch aͤhnliche Urſachen. Dies giebt der copernikaniſchen Hypotheſe ein ſo großes Uebergewicht uͤber die tychoniſche, obgleich beyde die Erſcheinungen erklaͤren. In jener iſt alles Folge eines einzigen Grundſatzes, und jede Erklaͤrung ſtimmt mit den andern uͤberein; in dieſer hingegen iſt wider die Analogie das Große dem Kleinen untergeordnet, und Wirkungen, welche ganz aͤhnlich ſcheinen, muͤſſen mit betraͤchtlichen Verſchiedenheiten erklaͤrt werden. Die Wahrſcheinlichkeit einer Hypotheſe ſteht ferner<*> im Verhaͤltniſſe mit der Menge der Faͤlle, die ſie erklaͤrt; ſie naͤhert ſich nemlich in eben dieſem Verhaͤltniſſe der wahren Urſache, welche alle Faͤlle erklaͤren wuͤrde. Auch iſt dieſe Wahrſcheinlichkeit deſto groͤßer, je genauer die Reſultate, die ſich aus der Hypotheſe und aus richtigen Beobachtungen ziehen laſſen, mit der Erfahrung uͤbereinſtimmen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0682" xml:id="P.2.676" n="676"/><lb/> ausgemachte Wahrheiten oder voͤllig erwieſene Naturgeſetze ſtreitendes enthalten, und daß ſie uͤberdies eine vollkommen befriedigende leichte und ungezwungene Erklaͤrung aller mit ihnen zuſammenhaͤngenden Erſcheinungen gewaͤhren. Dieſe Eigenſchaften geben z. B. dem copernikaniſchen Weltſyſtem, wenn es auch nicht mathematiſch erwieſen werden kan, eine Wahrſcheinlichkeit, welche ſich nach dem einſtimmigen Urtheile aller Sachkundigen der Gewißheit gleich ſetzen laͤßt.</p> <p>Das erſte Merkmal einer guten Hypotheſe iſt ihre <hi rendition="#b">Simplicitaͤt,</hi> wenn ſie nemlich die Erſcheinungen, um deren willen ſie gemacht iſt, durch die leichteſten und geſchwindeſten Mittel, mit der groͤßten Erſparniß, und ohne Einfuͤhrung neuer Subſtanzen oder Kraͤfte, erklaͤrt. Eine gute Hypotheſe muß ferner in <hi rendition="#b">Analogie</hi> mit den bekannten Geſetzen der Welt ſtehen. Die Natur iſt nie mit ſich ſelbſt im Widerſpruche, und in allen ihren Werken erblickt man Zuͤge eines allgemeinen Plans, in welchem kein Theil gegen den andern ſtreitet. Findet man alſo Aehnlichkeit und Uebereinſtimmung zwiſchen Geſetzen, die man feſtſtellen will, und denjenigen, die ſchon entdeckt und beſtaͤtiget ſind, ſo kan man die vermutheten Geſetze fuͤr wahrſcheinlich halten. Aehnliche Wirkungen verrathen faſt immer auch aͤhnliche Urſachen. Dies giebt der copernikaniſchen Hypotheſe ein ſo großes Uebergewicht uͤber die tychoniſche, obgleich beyde die Erſcheinungen erklaͤren. In jener iſt alles Folge eines einzigen Grundſatzes, und jede Erklaͤrung ſtimmt mit den andern uͤberein; in dieſer hingegen iſt wider die Analogie das Große dem Kleinen untergeordnet, und Wirkungen, welche ganz aͤhnlich ſcheinen, muͤſſen mit betraͤchtlichen Verſchiedenheiten erklaͤrt werden.</p> <p>Die Wahrſcheinlichkeit einer Hypotheſe ſteht ferner<*> im Verhaͤltniſſe mit der Menge der Faͤlle, die ſie erklaͤrt; ſie naͤhert ſich nemlich in eben dieſem Verhaͤltniſſe der wahren Urſache, welche alle Faͤlle erklaͤren wuͤrde. Auch iſt dieſe Wahrſcheinlichkeit deſto groͤßer, je genauer die Reſultate, die ſich aus der Hypotheſe und aus richtigen Beobachtungen ziehen laſſen, mit der Erfahrung uͤbereinſtimmen.<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [676/0682]
ausgemachte Wahrheiten oder voͤllig erwieſene Naturgeſetze ſtreitendes enthalten, und daß ſie uͤberdies eine vollkommen befriedigende leichte und ungezwungene Erklaͤrung aller mit ihnen zuſammenhaͤngenden Erſcheinungen gewaͤhren. Dieſe Eigenſchaften geben z. B. dem copernikaniſchen Weltſyſtem, wenn es auch nicht mathematiſch erwieſen werden kan, eine Wahrſcheinlichkeit, welche ſich nach dem einſtimmigen Urtheile aller Sachkundigen der Gewißheit gleich ſetzen laͤßt.
Das erſte Merkmal einer guten Hypotheſe iſt ihre Simplicitaͤt, wenn ſie nemlich die Erſcheinungen, um deren willen ſie gemacht iſt, durch die leichteſten und geſchwindeſten Mittel, mit der groͤßten Erſparniß, und ohne Einfuͤhrung neuer Subſtanzen oder Kraͤfte, erklaͤrt. Eine gute Hypotheſe muß ferner in Analogie mit den bekannten Geſetzen der Welt ſtehen. Die Natur iſt nie mit ſich ſelbſt im Widerſpruche, und in allen ihren Werken erblickt man Zuͤge eines allgemeinen Plans, in welchem kein Theil gegen den andern ſtreitet. Findet man alſo Aehnlichkeit und Uebereinſtimmung zwiſchen Geſetzen, die man feſtſtellen will, und denjenigen, die ſchon entdeckt und beſtaͤtiget ſind, ſo kan man die vermutheten Geſetze fuͤr wahrſcheinlich halten. Aehnliche Wirkungen verrathen faſt immer auch aͤhnliche Urſachen. Dies giebt der copernikaniſchen Hypotheſe ein ſo großes Uebergewicht uͤber die tychoniſche, obgleich beyde die Erſcheinungen erklaͤren. In jener iſt alles Folge eines einzigen Grundſatzes, und jede Erklaͤrung ſtimmt mit den andern uͤberein; in dieſer hingegen iſt wider die Analogie das Große dem Kleinen untergeordnet, und Wirkungen, welche ganz aͤhnlich ſcheinen, muͤſſen mit betraͤchtlichen Verſchiedenheiten erklaͤrt werden.
Die Wahrſcheinlichkeit einer Hypotheſe ſteht ferner<*> im Verhaͤltniſſe mit der Menge der Faͤlle, die ſie erklaͤrt; ſie naͤhert ſich nemlich in eben dieſem Verhaͤltniſſe der wahren Urſache, welche alle Faͤlle erklaͤren wuͤrde. Auch iſt dieſe Wahrſcheinlichkeit deſto groͤßer, je genauer die Reſultate, die ſich aus der Hypotheſe und aus richtigen Beobachtungen ziehen laſſen, mit der Erfahrung uͤbereinſtimmen.
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