uns alle Mittel, das Gesehene mit dem Gefühl zu vergleichen, gänzlich gefehlt; wir haben uns daher für diese ganze Classe von Gegenständen keine besondern Regeln bilden können, und es ist natürlich, daß wir bey jedem Urtheile irren, das wir darüber nach dem Augenmaaße, d. i. nach den gewöhnlichen für nahe irdische Gegenstände geltenden Regeln fällen. So glauben wir die Fixsterne nahe bey einander zu sehen, weil uns die Darstellung im Auge nichts angiebt, woraus wir auf einen beträchtlichen Abstand derselben von einander schließen könnten; wir glauben, Bewegungen der Gestirne wahrzunehmen, weil sich ihre Lage gegen das Auge ändert, das wir für ruhend halten, in welchem Falle wir bey irdischen Gegenständen auf ihre Bewegung zu schließen gewohnt sind; wir sehen Sonne und Mond für platte Scheiben an, weil wir durch keinen Umstand veranlaßt werden, zu bemerken, daß ihre Mitte hervorstehe, und dem Auge näher, als die Ränder sey -- welches bey nahen Dingen ein untrügliches Zeichen einer platten Oberfläche ist; wir halten endlich das Gewölbe des Himmels für eingedrückt, und das, was am Horizonte erscheint, für größer, als das, was gegen den Scheitelpunkt steht, weil wir uns hiebey nach Regeln richten, die nur aus den gewöhnlichen Fällen auf der Erde gezogen, und nur für diese richtig sind, s. Himmel; Größe, scheinbare, Entfernung, scheinbate. Ueberhaupt sind am Himmel die Gesichtsbetrüge unzählbar, daher denn auch die sphärische Sternkunde von der theorischen gänzlich abgesondert werden muß.
Aber auch bey Betrachtung irdischer Gegenstände kommen die von den gewöhnlichen Regeln abweichenden Fälle häufig genug vor. Es würde unmöglich seyn, alle anzu führen; ich will daher nur einiger der merkwürdigsten gedenken.
Es ist eine sehr bekannte Erfahrung, daß wir aus den Zeiten der frühen Jugend eine Erinnerung an die Größe der Zimmer, Säle und Plätze unserer Wohnungen übrigbehalten. Kehren wir aber nach einer langen Abwesenheit an den Ort unsrer Erziehung zurück, so überrascht uns die
uns alle Mittel, das Geſehene mit dem Gefuͤhl zu vergleichen, gaͤnzlich gefehlt; wir haben uns daher fuͤr dieſe ganze Claſſe von Gegenſtaͤnden keine beſondern Regeln bilden koͤnnen, und es iſt natuͤrlich, daß wir bey jedem Urtheile irren, das wir daruͤber nach dem Augenmaaße, d. i. nach den gewoͤhnlichen fuͤr nahe irdiſche Gegenſtaͤnde geltenden Regeln faͤllen. So glauben wir die Fixſterne nahe bey einander zu ſehen, weil uns die Darſtellung im Auge nichts angiebt, woraus wir auf einen betraͤchtlichen Abſtand derſelben von einander ſchließen koͤnnten; wir glauben, Bewegungen der Geſtirne wahrzunehmen, weil ſich ihre Lage gegen das Auge aͤndert, das wir fuͤr ruhend halten, in welchem Falle wir bey irdiſchen Gegenſtaͤnden auf ihre Bewegung zu ſchließen gewohnt ſind; wir ſehen Sonne und Mond fuͤr platte Scheiben an, weil wir durch keinen Umſtand veranlaßt werden, zu bemerken, daß ihre Mitte hervorſtehe, und dem Auge naͤher, als die Raͤnder ſey — welches bey nahen Dingen ein untruͤgliches Zeichen einer platten Oberflaͤche iſt; wir halten endlich das Gewoͤlbe des Himmels fuͤr eingedruͤckt, und das, was am Horizonte erſcheint, fuͤr groͤßer, als das, was gegen den Scheitelpunkt ſteht, weil wir uns hiebey nach Regeln richten, die nur aus den gewoͤhnlichen Faͤllen auf der Erde gezogen, und nur fuͤr dieſe richtig ſind, ſ. Himmel; Groͤße, ſcheinbare, Entfernung, ſcheinbate. Ueberhaupt ſind am Himmel die Geſichtsbetruͤge unzaͤhlbar, daher denn auch die ſphaͤriſche Sternkunde von der theoriſchen gaͤnzlich abgeſondert werden muß.
Aber auch bey Betrachtung irdiſcher Gegenſtaͤnde kommen die von den gewoͤhnlichen Regeln abweichenden Faͤlle haͤufig genug vor. Es wuͤrde unmoͤglich ſeyn, alle anzu fuͤhren; ich will daher nur einiger der merkwuͤrdigſten gedenken.
Es iſt eine ſehr bekannte Erfahrung, daß wir aus den Zeiten der fruͤhen Jugend eine Erinnerung an die Groͤße der Zimmer, Saͤle und Plaͤtze unſerer Wohnungen uͤbrigbehalten. Kehren wir aber nach einer langen Abweſenheit an den Ort unſrer Erziehung zuruͤck, ſo uͤberraſcht uns die
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uns alle Mittel, das Geſehene mit dem Gefuͤhl zu vergleichen, gaͤnzlich gefehlt; wir haben uns daher fuͤr dieſe ganze Claſſe von Gegenſtaͤnden keine beſondern Regeln bilden koͤnnen, und es iſt natuͤrlich, daß wir bey jedem Urtheile irren, das wir daruͤber nach dem Augenmaaße, d. i. nach den gewoͤhnlichen fuͤr nahe irdiſche Gegenſtaͤnde geltenden Regeln faͤllen. So glauben wir die Fixſterne nahe bey einander zu ſehen, weil uns die Darſtellung im Auge nichts angiebt, woraus wir auf einen betraͤchtlichen Abſtand derſelben von einander ſchließen koͤnnten; wir glauben, Bewegungen der Geſtirne wahrzunehmen, weil ſich ihre Lage gegen das Auge aͤndert, das wir fuͤr ruhend halten, in welchem Falle wir bey irdiſchen Gegenſtaͤnden auf ihre Bewegung zu ſchließen gewohnt ſind; wir ſehen Sonne und Mond fuͤr platte Scheiben an, weil wir durch keinen Umſtand veranlaßt werden, zu bemerken, daß ihre Mitte hervorſtehe, und dem Auge naͤher, als die Raͤnder ſey — welches bey nahen Dingen ein untruͤgliches Zeichen einer platten Oberflaͤche iſt; wir halten endlich das Gewoͤlbe des Himmels fuͤr eingedruͤckt, und das, was am Horizonte erſcheint, fuͤr groͤßer, als das, was gegen den Scheitelpunkt ſteht, weil wir uns hiebey nach Regeln richten, die nur aus den gewoͤhnlichen Faͤllen auf der Erde gezogen, und nur fuͤr dieſe richtig ſind, <hirendition="#b">ſ. Himmel; Groͤße, ſcheinbare, Entfernung, ſcheinbate.</hi> Ueberhaupt ſind am Himmel die Geſichtsbetruͤge unzaͤhlbar, daher denn auch die ſphaͤriſche Sternkunde von der theoriſchen gaͤnzlich abgeſondert werden muß.</p><p>Aber auch bey Betrachtung irdiſcher Gegenſtaͤnde kommen die von den gewoͤhnlichen Regeln abweichenden Faͤlle haͤufig genug vor. Es wuͤrde unmoͤglich ſeyn, alle anzu fuͤhren; ich will daher nur einiger der merkwuͤrdigſten gedenken.</p><p>Es iſt eine ſehr bekannte Erfahrung, daß wir aus den Zeiten der fruͤhen Jugend eine Erinnerung an die Groͤße der Zimmer, Saͤle und Plaͤtze unſerer Wohnungen uͤbrigbehalten. Kehren wir aber nach einer langen Abweſenheit an den Ort unſrer Erziehung zuruͤck, ſo uͤberraſcht uns die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
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uns alle Mittel, das Geſehene mit dem Gefuͤhl zu vergleichen, gaͤnzlich gefehlt; wir haben uns daher fuͤr dieſe ganze Claſſe von Gegenſtaͤnden keine beſondern Regeln bilden koͤnnen, und es iſt natuͤrlich, daß wir bey jedem Urtheile irren, das wir daruͤber nach dem Augenmaaße, d. i. nach den gewoͤhnlichen fuͤr nahe irdiſche Gegenſtaͤnde geltenden Regeln faͤllen. So glauben wir die Fixſterne nahe bey einander zu ſehen, weil uns die Darſtellung im Auge nichts angiebt, woraus wir auf einen betraͤchtlichen Abſtand derſelben von einander ſchließen koͤnnten; wir glauben, Bewegungen der Geſtirne wahrzunehmen, weil ſich ihre Lage gegen das Auge aͤndert, das wir fuͤr ruhend halten, in welchem Falle wir bey irdiſchen Gegenſtaͤnden auf ihre Bewegung zu ſchließen gewohnt ſind; wir ſehen Sonne und Mond fuͤr platte Scheiben an, weil wir durch keinen Umſtand veranlaßt werden, zu bemerken, daß ihre Mitte hervorſtehe, und dem Auge naͤher, als die Raͤnder ſey — welches bey nahen Dingen ein untruͤgliches Zeichen einer platten Oberflaͤche iſt; wir halten endlich das Gewoͤlbe des Himmels fuͤr eingedruͤckt, und das, was am Horizonte erſcheint, fuͤr groͤßer, als das, was gegen den Scheitelpunkt ſteht, weil wir uns hiebey nach Regeln richten, die nur aus den gewoͤhnlichen Faͤllen auf der Erde gezogen, und nur fuͤr dieſe richtig ſind, ſ. Himmel; Groͤße, ſcheinbare, Entfernung, ſcheinbate. Ueberhaupt ſind am Himmel die Geſichtsbetruͤge unzaͤhlbar, daher denn auch die ſphaͤriſche Sternkunde von der theoriſchen gaͤnzlich abgeſondert werden muß.
Aber auch bey Betrachtung irdiſcher Gegenſtaͤnde kommen die von den gewoͤhnlichen Regeln abweichenden Faͤlle haͤufig genug vor. Es wuͤrde unmoͤglich ſeyn, alle anzu fuͤhren; ich will daher nur einiger der merkwuͤrdigſten gedenken.
Es iſt eine ſehr bekannte Erfahrung, daß wir aus den Zeiten der fruͤhen Jugend eine Erinnerung an die Groͤße der Zimmer, Saͤle und Plaͤtze unſerer Wohnungen uͤbrigbehalten. Kehren wir aber nach einer langen Abweſenheit an den Ort unſrer Erziehung zuruͤck, ſo uͤberraſcht uns die
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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/474>, abgerufen am 22.11.2024.
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