Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.Ueber die Prüfung Naivetät. Sie besteht darinnen, wenn unterdem Scheine der Einfalt und der Unwissenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit gesagt wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfäl- tig, und der Sinn groß ist. Wenn man nun bey Kindern solche Ausdrücke noch dazu mit der ein- nehmenden Miene der Unschuld und der Freund- lichkeit vorbringen hört, so glaubt man, sie sind naiv, ob sie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt sind. Man bemerkt nämlich nicht, daß der Ge- danke, den man sonst vielleicht mit diesem oder einem ähnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt ist, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat- te, war vielleicht so nichtsbedeutend oder so wi- dersinnig, als der Ausdruck. Daher scheinen so oft diese artigen Einfälle, die im dritten Jahre be- wundert wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind sagt izt nichts schlechters, als zuvor; aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge- danke, den man vorausgesezt hatte, nicht vorhan- den sey; der angenommene Kontrast zwischen Be- Ueber die Pruͤfung Naivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unterdem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl- tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein- nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund- lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge- danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat- te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi- derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be- wundert wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor; aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge- danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan- den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0094" n="88"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber die Pruͤfung</hi></fw><lb/> Naivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unter<lb/> dem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine<lb/> große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt<lb/> wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl-<lb/> tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey<lb/> Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein-<lb/> nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund-<lb/> lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind<lb/> naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt<lb/> ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge-<lb/> danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder<lb/> einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt<lb/> iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat-<lb/> te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi-<lb/> derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo<lb/> oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be-<lb/> wundert wurden, Ungereimtheiten im achten.<lb/> Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor;<lb/> aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge-<lb/> danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan-<lb/> den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [88/0094]
Ueber die Pruͤfung
Naivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unter
dem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine
große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt
wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl-
tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey
Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein-
nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund-
lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind
naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt
ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge-
danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder
einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt
iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat-
te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi-
derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo
oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be-
wundert wurden, Ungereimtheiten im achten.
Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor;
aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge-
danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan-
den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |