wenigemale gebraucht werden müssen, wenn sie nicht ihre Kraft verlieren sollen: so ist es auch mit dieser Art von poetischem Kunstgriffe beschaf- sen. Wohl gebraucht verführt er die Seele das erstemal ganz; er entzückt, er bezaubert. So ist es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen. Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller Vollkommenheit angewandt wird, stumpf und unkräftig. Besonders aber kann nichts leichter übertrieben werden, als ein solches Gemälde; nichts leichter verfehlt, als die Absicht desselben.
Zuerst ist es ausgemacht, daß es immer am leichtesten ist, die Extremen zu schildern. Man braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs äußerste treiben darf. So ist es schon bey der größten Hitze der Leidenschaften, auch wenn sie den Menschen noch bey dem Gebrauche seiner Vernunft läßt. Es gehört zu eben der Mäßi- gung, von der ich oben geredet habe, daß die poetische Schilderung innerhalb der mittlern Grade der Leidenschaften stehen bleibe, wo die größte Mannichfaltigkeit, die meisten feinen
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uͤber das Intereſſirende.
wenigemale gebraucht werden muͤſſen, wenn ſie nicht ihre Kraft verlieren ſollen: ſo iſt es auch mit dieſer Art von poetiſchem Kunſtgriffe beſchaf- ſen. Wohl gebraucht verfuͤhrt er die Seele das erſtemal ganz; er entzuͤckt, er bezaubert. So iſt es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen. Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller Vollkommenheit angewandt wird, ſtumpf und unkraͤftig. Beſonders aber kann nichts leichter uͤbertrieben werden, als ein ſolches Gemaͤlde; nichts leichter verfehlt, als die Abſicht deſſelben.
Zuerſt iſt es ausgemacht, daß es immer am leichteſten iſt, die Extremen zu ſchildern. Man braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs aͤußerſte treiben darf. So iſt es ſchon bey der groͤßten Hitze der Leidenſchaften, auch wenn ſie den Menſchen noch bey dem Gebrauche ſeiner Vernunft laͤßt. Es gehoͤrt zu eben der Maͤßi- gung, von der ich oben geredet habe, daß die poetiſche Schilderung innerhalb der mittlern Grade der Leidenſchaften ſtehen bleibe, wo die groͤßte Mannichfaltigkeit, die meiſten feinen
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uͤber das Intereſſirende.
wenigemale gebraucht werden muͤſſen, wenn ſie
nicht ihre Kraft verlieren ſollen: ſo iſt es auch
mit dieſer Art von poetiſchem Kunſtgriffe beſchaf-
ſen. Wohl gebraucht verfuͤhrt er die Seele das
erſtemal ganz; er entzuͤckt, er bezaubert. So iſt
es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen.
Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller
Vollkommenheit angewandt wird, ſtumpf und
unkraͤftig. Beſonders aber kann nichts leichter
uͤbertrieben werden, als ein ſolches Gemaͤlde;
nichts leichter verfehlt, als die Abſicht deſſelben.
Zuerſt iſt es ausgemacht, daß es immer am
leichteſten iſt, die Extremen zu ſchildern. Man
braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs
aͤußerſte treiben darf. So iſt es ſchon bey der
groͤßten Hitze der Leidenſchaften, auch wenn ſie
den Menſchen noch bey dem Gebrauche ſeiner
Vernunft laͤßt. Es gehoͤrt zu eben der Maͤßi-
gung, von der ich oben geredet habe, daß die
poetiſche Schilderung innerhalb der mittlern
Grade der Leidenſchaften ſtehen bleibe, wo die
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/397>, abgerufen am 16.02.2025.
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