Mit diesem Streite der Leidenschaften, von welchem bisher geredet worden ist, haben zween Fälle etwas ähnliches, die nach Theorie und Er- fahrung vorzüglich interessant sind. Des ersten gedenkt schon Aristoteles in seiner Rhetorik. Das Mitleiden, sagt er, wird stärker rege, wenn nach Vollbringung des Streichs, der das Schicksal des Helden entscheidet, nun ein Umstand sich er- eignet oder bekannt wird, der ihn würde gerettet haben, wenn er nicht schon das äußerste erlitten hätte. Was macht Clarissens Tod trauriger, als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge- bung von ihren Eltern bringt? Was ist schreck- licher als die Situation des Romeo, der seine Geliebte wieder aufleben sieht, da er das Gift schon getrunken hat? Diese Beyspiele zeigen zu- gleich die Verschiedenheit, die hierbey noch statt findet. Ist die Person selbst, wie Romeo, noch am Leben und gegenwärtig, sieht sie selbst den glücklichen alles ändernden Vorfall, und ist doch verloren: so ist die Situation schrecklich. Ist die Person, wie Clarisse, schon todt, und ist es
Einige Gedanken
Mit dieſem Streite der Leidenſchaften, von welchem bisher geredet worden iſt, haben zween Faͤlle etwas aͤhnliches, die nach Theorie und Er- fahrung vorzuͤglich intereſſant ſind. Des erſten gedenkt ſchon Ariſtoteles in ſeiner Rhetorik. Das Mitleiden, ſagt er, wird ſtaͤrker rege, wenn nach Vollbringung des Streichs, der das Schickſal des Helden entſcheidet, nun ein Umſtand ſich er- eignet oder bekannt wird, der ihn wuͤrde gerettet haben, wenn er nicht ſchon das aͤußerſte erlitten haͤtte. Was macht Clariſſens Tod trauriger, als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge- bung von ihren Eltern bringt? Was iſt ſchreck- licher als die Situation des Romeo, der ſeine Geliebte wieder aufleben ſieht, da er das Gift ſchon getrunken hat? Dieſe Beyſpiele zeigen zu- gleich die Verſchiedenheit, die hierbey noch ſtatt findet. Iſt die Perſon ſelbſt, wie Romeo, noch am Leben und gegenwaͤrtig, ſieht ſie ſelbſt den gluͤcklichen alles aͤndernden Vorfall, und iſt doch verloren: ſo iſt die Situation ſchrecklich. Iſt die Perſon, wie Clariſſe, ſchon todt, und iſt es
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Einige Gedanken
Mit dieſem Streite der Leidenſchaften, von
welchem bisher geredet worden iſt, haben zween
Faͤlle etwas aͤhnliches, die nach Theorie und Er-
fahrung vorzuͤglich intereſſant ſind. Des erſten
gedenkt ſchon Ariſtoteles in ſeiner Rhetorik. Das
Mitleiden, ſagt er, wird ſtaͤrker rege, wenn nach
Vollbringung des Streichs, der das Schickſal
des Helden entſcheidet, nun ein Umſtand ſich er-
eignet oder bekannt wird, der ihn wuͤrde gerettet
haben, wenn er nicht ſchon das aͤußerſte erlitten
haͤtte. Was macht Clariſſens Tod trauriger,
als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge-
bung von ihren Eltern bringt? Was iſt ſchreck-
licher als die Situation des Romeo, der ſeine
Geliebte wieder aufleben ſieht, da er das Gift
ſchon getrunken hat? Dieſe Beyſpiele zeigen zu-
gleich die Verſchiedenheit, die hierbey noch ſtatt
findet. Iſt die Perſon ſelbſt, wie Romeo, noch
am Leben und gegenwaͤrtig, ſieht ſie ſelbſt den
gluͤcklichen alles aͤndernden Vorfall, und iſt doch
verloren: ſo iſt die Situation ſchrecklich. Iſt
die Perſon, wie Clariſſe, ſchon todt, und iſt es
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/356>, abgerufen am 22.11.2024.
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