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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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über das Interessirende.
die feinern Mischungen zu zeigen, durch welche
derselbe Hauptcharakter in verschiedenen Menschen
mannichfaltig abwechseln kann; die Situation
nach ihren kleinsten Wirkungen auf die Person, die
sich darinnen befindet, vorzustellen; dieß sollte
das Werk des bürgerlichen Trauerspiels, der ho-
hen Komödie und aller der dramatischen Stücke
seyn, wo die Prose dem Dichter mehr Freyheit und
eine genauere Aehnlichkeit mit dem natürlichen
Ausdrucke erlaubt. -- Obgleich beide Arten, die
dichterische Vorstellung der Sache über die gemei-
nen Vorstellungen zu erheben, ihren Werth ha-
ben; obgleich zu jeder vorzügliche Fähigkeiten des
Geistes nöthig sind: so gestehen wir doch, daß wir
die leztere Art für die schwerere und für die inte-
ressantere halten; daß es nach unserer Meynung
mehr Kunst kostet, alle Schattirungen einer ruhi-
gen Zuneigung, als einige wenige starke Farben
einer rasenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver-
gnügen macht, den ganzen Zustand der Seele bey
einem Hausvater zu sehen, der von einer über-
eilten Liebe seines Sohns, der Herrschsucht seines

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uͤber das Intereſſirende.
die feinern Miſchungen zu zeigen, durch welche
derſelbe Hauptcharakter in verſchiedenen Menſchen
mannichfaltig abwechſeln kann; die Situation
nach ihren kleinſten Wirkungen auf die Perſon, die
ſich darinnen befindet, vorzuſtellen; dieß ſollte
das Werk des buͤrgerlichen Trauerſpiels, der ho-
hen Komoͤdie und aller der dramatiſchen Stuͤcke
ſeyn, wo die Proſe dem Dichter mehr Freyheit und
eine genauere Aehnlichkeit mit dem natuͤrlichen
Ausdrucke erlaubt. — Obgleich beide Arten, die
dichteriſche Vorſtellung der Sache uͤber die gemei-
nen Vorſtellungen zu erheben, ihren Werth ha-
ben; obgleich zu jeder vorzuͤgliche Faͤhigkeiten des
Geiſtes noͤthig ſind: ſo geſtehen wir doch, daß wir
die leztere Art fuͤr die ſchwerere und fuͤr die inte-
reſſantere halten; daß es nach unſerer Meynung
mehr Kunſt koſtet, alle Schattirungen einer ruhi-
gen Zuneigung, als einige wenige ſtarke Farben
einer raſenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver-
gnuͤgen macht, den ganzen Zuſtand der Seele bey
einem Hausvater zu ſehen, der von einer uͤber-
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[307/0313] uͤber das Intereſſirende. die feinern Miſchungen zu zeigen, durch welche derſelbe Hauptcharakter in verſchiedenen Menſchen mannichfaltig abwechſeln kann; die Situation nach ihren kleinſten Wirkungen auf die Perſon, die ſich darinnen befindet, vorzuſtellen; dieß ſollte das Werk des buͤrgerlichen Trauerſpiels, der ho- hen Komoͤdie und aller der dramatiſchen Stuͤcke ſeyn, wo die Proſe dem Dichter mehr Freyheit und eine genauere Aehnlichkeit mit dem natuͤrlichen Ausdrucke erlaubt. — Obgleich beide Arten, die dichteriſche Vorſtellung der Sache uͤber die gemei- nen Vorſtellungen zu erheben, ihren Werth ha- ben; obgleich zu jeder vorzuͤgliche Faͤhigkeiten des Geiſtes noͤthig ſind: ſo geſtehen wir doch, daß wir die leztere Art fuͤr die ſchwerere und fuͤr die inte- reſſantere halten; daß es nach unſerer Meynung mehr Kunſt koſtet, alle Schattirungen einer ruhi- gen Zuneigung, als einige wenige ſtarke Farben einer raſenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver- gnuͤgen macht, den ganzen Zuſtand der Seele bey einem Hausvater zu ſehen, der von einer uͤber- eilten Liebe ſeines Sohns, der Herrſchſucht ſeines U 2

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/313>, abgerufen am 25.11.2024.