ist vielleicht das ängstlichere mit einem größern Eifer verbunden.
Die Furchtsamkeit machte ihn zugleich sehr bescheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftsteller ist wohl mehr geneigt gewesen, andern einen Vor- zug vor sich zuzugestehen. Er schäzte die Voll- kommenheiten beynahe am höchsten, die er nicht besaß; er zog die Gelehrsamkeit dem Genie vor. Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines Menschen gewesen. Auf der Laufbahn, in der er sich befand, und in welcher unglücklicher Weise Neid und Eifersucht so leicht entstehen, weil viele um einen gemeinschaftlichen Preiß streiten, hätte er gern jeden sich zuvorkommen gesehen; und nur durch einige Gewalt war er so weit hervorgezogen worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen persönliche Eigenschaften in keine Betrachtung kömmt; und wie wäre es möglich, daß ein Mann von seinem Geiste anders urtheilte? Aber demun- erachtet waren ihm diese Verhältnisse in der bür- gerlichen Gesellschaft, als Einrichtungen der gött- lichen Vorsehung, so wichtig, und er war zu-
Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
iſt vielleicht das aͤngſtlichere mit einem groͤßern Eifer verbunden.
Die Furchtſamkeit machte ihn zugleich ſehr beſcheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftſteller iſt wohl mehr geneigt geweſen, andern einen Vor- zug vor ſich zuzugeſtehen. Er ſchaͤzte die Voll- kommenheiten beynahe am hoͤchſten, die er nicht beſaß; er zog die Gelehrſamkeit dem Genie vor. Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines Menſchen geweſen. Auf der Laufbahn, in der er ſich befand, und in welcher ungluͤcklicher Weiſe Neid und Eiferſucht ſo leicht entſtehen, weil viele um einen gemeinſchaftlichen Preiß ſtreiten, haͤtte er gern jeden ſich zuvorkommen geſehen; und nur durch einige Gewalt war er ſo weit hervorgezogen worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen perſoͤnliche Eigenſchaften in keine Betrachtung koͤmmt; und wie waͤre es moͤglich, daß ein Mann von ſeinem Geiſte anders urtheilte? Aber demun- erachtet waren ihm dieſe Verhaͤltniſſe in der buͤr- gerlichen Geſellſchaft, als Einrichtungen der goͤtt- lichen Vorſehung, ſo wichtig, und er war zu-
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Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
iſt vielleicht das aͤngſtlichere mit einem groͤßern
Eifer verbunden.
Die Furchtſamkeit machte ihn zugleich ſehr
beſcheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftſteller iſt
wohl mehr geneigt geweſen, andern einen Vor-
zug vor ſich zuzugeſtehen. Er ſchaͤzte die Voll-
kommenheiten beynahe am hoͤchſten, die er nicht
beſaß; er zog die Gelehrſamkeit dem Genie vor.
Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines
Menſchen geweſen. Auf der Laufbahn, in der er
ſich befand, und in welcher ungluͤcklicher Weiſe
Neid und Eiferſucht ſo leicht entſtehen, weil viele
um einen gemeinſchaftlichen Preiß ſtreiten, haͤtte
er gern jeden ſich zuvorkommen geſehen; und nur
durch einige Gewalt war er ſo weit hervorgezogen
worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen
perſoͤnliche Eigenſchaften in keine Betrachtung
koͤmmt; und wie waͤre es moͤglich, daß ein Mann
von ſeinem Geiſte anders urtheilte? Aber demun-
erachtet waren ihm dieſe Verhaͤltniſſe in der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, als Einrichtungen der goͤtt-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/250>, abgerufen am 25.11.2024.
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