Beobachter, nicht in der Absicht, um die mensch- liche Natur überhaupt kennen zu lernen, sondern um seine eigne Besserung, auf die er weit früher und weit ernstlicher als die meisten Menschen be- dacht war, durch die Kenntniß seiner Fehler zu be- fördern. Diese Beobachtungen sah er nicht als Erscheinungen an, die er aus allgemeinen Gesetzen der Natur erklären wollte, sondern er machte sie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar auf seine Person und seine Umstände anwenden müßte.
Demunerachtet zeigen seine Werke, daß er die moralische Welt auch in einem weitern Umfange kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be- tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus- drücke der verschiedenen Stände und der verschie- denen Charaktere. Was er schildert, ist allemal kenntlich, und das innerste Gefühl eines jeden Le- sers stimmt damit überein. Er kannte die Lei- denschaften vielleicht nur in ihren sanftesten Aeus- serungen; aber er war auch um so viel weniger
Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Beobachter, nicht in der Abſicht, um die menſch- liche Natur uͤberhaupt kennen zu lernen, ſondern um ſeine eigne Beſſerung, auf die er weit fruͤher und weit ernſtlicher als die meiſten Menſchen be- dacht war, durch die Kenntniß ſeiner Fehler zu be- foͤrdern. Dieſe Beobachtungen ſah er nicht als Erſcheinungen an, die er aus allgemeinen Geſetzen der Natur erklaͤren wollte, ſondern er machte ſie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar auf ſeine Perſon und ſeine Umſtaͤnde anwenden muͤßte.
Demunerachtet zeigen ſeine Werke, daß er die moraliſche Welt auch in einem weitern Umfange kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be- tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus- druͤcke der verſchiedenen Staͤnde und der verſchie- denen Charaktere. Was er ſchildert, iſt allemal kenntlich, und das innerſte Gefuͤhl eines jeden Le- ſers ſtimmt damit uͤberein. Er kannte die Lei- denſchaften vielleicht nur in ihren ſanfteſten Aeuſ- ſerungen; aber er war auch um ſo viel weniger
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Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Beobachter, nicht in der Abſicht, um die menſch-
liche Natur uͤberhaupt kennen zu lernen, ſondern
um ſeine eigne Beſſerung, auf die er weit fruͤher
und weit ernſtlicher als die meiſten Menſchen be-
dacht war, durch die Kenntniß ſeiner Fehler zu be-
foͤrdern. Dieſe Beobachtungen ſah er nicht als
Erſcheinungen an, die er aus allgemeinen Geſetzen
der Natur erklaͤren wollte, ſondern er machte
ſie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar
auf ſeine Perſon und ſeine Umſtaͤnde anwenden
muͤßte.
Demunerachtet zeigen ſeine Werke, daß er die
moraliſche Welt auch in einem weitern Umfange
kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be-
tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus-
druͤcke der verſchiedenen Staͤnde und der verſchie-
denen Charaktere. Was er ſchildert, iſt allemal
kenntlich, und das innerſte Gefuͤhl eines jeden Le-
ſers ſtimmt damit uͤberein. Er kannte die Lei-
denſchaften vielleicht nur in ihren ſanfteſten Aeuſ-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/232>, abgerufen am 25.11.2024.
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