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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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Anmerkungen über Gellerts Moral,

Uns dünkt, wenn man das Ding, was man
Geschmack nennt, irgendwo zu suchen hat, so ist
es eben nicht an den äußersten Gränzen des Ge-
nies, sondern in diesem Mittelpunkte, wo die ver-
schiedenen Fähigkeiten, die in den Umkreis des
menschlichen Geistes gehören, gleichsam zusam-
menstoßen, und sich in gleichen Proportionen
vereinigen. Genie nämlich soll irgend eine aus-
nehmende Größe der Geisteskraft, die in einem
Werke sichtbar ist, und Geschmack die Uebereln-
stimmung und Schicklichkeit aller Theile desselben
anzeigen. Wenn nun jene Größe nicht sowohl
darinn besteht, daß das ganze System aller Fä-
higkeiten in gleichem Grade erweitert ist, als daß
vielmehr nur Eine aus allen übrigen abgesondert,
und einzeln unter ihnen gleichsam hervorgezogen
worden: so wird der Theil des Werks, der gerade
durch diese Fähigkeit sich bearbeiten läßt, vor-
trefflich, und vielleicht in einem höhern Grade
vortrefflich werden, aber alle übrigen (und kein
Werk von gewissem Umfange läßt sich in allen sei-
nen Theilen nür durch dieselbe Fähigkeit bearbei-

Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,

Uns duͤnkt, wenn man das Ding, was man
Geſchmack nennt, irgendwo zu ſuchen hat, ſo iſt
es eben nicht an den aͤußerſten Graͤnzen des Ge-
nies, ſondern in dieſem Mittelpunkte, wo die ver-
ſchiedenen Faͤhigkeiten, die in den Umkreis des
menſchlichen Geiſtes gehoͤren, gleichſam zuſam-
menſtoßen, und ſich in gleichen Proportionen
vereinigen. Genie naͤmlich ſoll irgend eine aus-
nehmende Groͤße der Geiſteskraft, die in einem
Werke ſichtbar iſt, und Geſchmack die Uebereln-
ſtimmung und Schicklichkeit aller Theile deſſelben
anzeigen. Wenn nun jene Groͤße nicht ſowohl
darinn beſteht, daß das ganze Syſtem aller Faͤ-
higkeiten in gleichem Grade erweitert iſt, als daß
vielmehr nur Eine aus allen uͤbrigen abgeſondert,
und einzeln unter ihnen gleichſam hervorgezogen
worden: ſo wird der Theil des Werks, der gerade
durch dieſe Faͤhigkeit ſich bearbeiten laͤßt, vor-
trefflich, und vielleicht in einem hoͤhern Grade
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[206/0212] Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Uns duͤnkt, wenn man das Ding, was man Geſchmack nennt, irgendwo zu ſuchen hat, ſo iſt es eben nicht an den aͤußerſten Graͤnzen des Ge- nies, ſondern in dieſem Mittelpunkte, wo die ver- ſchiedenen Faͤhigkeiten, die in den Umkreis des menſchlichen Geiſtes gehoͤren, gleichſam zuſam- menſtoßen, und ſich in gleichen Proportionen vereinigen. Genie naͤmlich ſoll irgend eine aus- nehmende Groͤße der Geiſteskraft, die in einem Werke ſichtbar iſt, und Geſchmack die Uebereln- ſtimmung und Schicklichkeit aller Theile deſſelben anzeigen. Wenn nun jene Groͤße nicht ſowohl darinn beſteht, daß das ganze Syſtem aller Faͤ- higkeiten in gleichem Grade erweitert iſt, als daß vielmehr nur Eine aus allen uͤbrigen abgeſondert, und einzeln unter ihnen gleichſam hervorgezogen worden: ſo wird der Theil des Werks, der gerade durch dieſe Faͤhigkeit ſich bearbeiten laͤßt, vor- trefflich, und vielleicht in einem hoͤhern Grade vortrefflich werden, aber alle uͤbrigen (und kein Werk von gewiſſem Umfange laͤßt ſich in allen ſei- nen Theilen nuͤr durch dieſelbe Faͤhigkeit bearbei-

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/212>, abgerufen am 22.11.2024.