züge des Geistes erkennen soll? Wenn nicht hier der Zufall oft mehr thäte, als die Klugheit und die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor- züglichen Fähigkeiten für gewisse Sachen, auch eine vorzügliche Neigung dazu verbunden hätte, so würden die meisten Talente erstickt oder schlecht angewendet werden.
Also, wenn das der einzige Endzweck dieser Untersuchung wäre, dem Menschen seine Bestim- mung und seine Geschäfte anzuweisen, so könnte man sie getrost aufgeben. Der Richterstuhl, der über die Fähigkeiten junger Bürger in einem Staate den Ausspruch thun, und jedem seine Lebensart nach diesem Ausspruche zuerkennen soll- te, ist einer von den schönen Vorschlägen, die zu weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu- stigen. Die Natur will nicht haben, daß sich unsre Weisheit in alle ihre Werke mischen soll; und am Ende macht sie es doch vielleicht eben so gut, als wir es mit unsrer ganzen Klugheit wür- den gemacht haben.
Ueber die Pruͤfung
zuͤge des Geiſtes erkennen ſoll? Wenn nicht hier der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor- zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewiſſe Sachen, auch eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte, ſo wuͤrden die meiſten Talente erſtickt oder ſchlecht angewendet werden.
Alſo, wenn das der einzige Endzweck dieſer Unterſuchung waͤre, dem Menſchen ſeine Beſtim- mung und ſeine Geſchaͤfte anzuweiſen, ſo koͤnnte man ſie getroſt aufgeben. Der Richterſtuhl, der uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem Staate den Ausſpruch thun, und jedem ſeine Lebensart nach dieſem Ausſpruche zuerkennen ſoll- te, iſt einer von den ſchoͤnen Vorſchlaͤgen, die zu weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu- ſtigen. Die Natur will nicht haben, daß ſich unſre Weisheit in alle ihre Werke miſchen ſoll; und am Ende macht ſie es doch vielleicht eben ſo gut, als wir es mit unſrer ganzen Klugheit wuͤr- den gemacht haben.
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Ueber die Pruͤfung
zuͤge des Geiſtes erkennen ſoll? Wenn nicht hier
der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und
die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor-
zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewiſſe Sachen, auch
eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte,
ſo wuͤrden die meiſten Talente erſtickt oder ſchlecht
angewendet werden.
Alſo, wenn das der einzige Endzweck dieſer
Unterſuchung waͤre, dem Menſchen ſeine Beſtim-
mung und ſeine Geſchaͤfte anzuweiſen, ſo koͤnnte
man ſie getroſt aufgeben. Der Richterſtuhl, der
uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem
Staate den Ausſpruch thun, und jedem ſeine
Lebensart nach dieſem Ausſpruche zuerkennen ſoll-
te, iſt einer von den ſchoͤnen Vorſchlaͤgen, die zu
weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu-
ſtigen. Die Natur will nicht haben, daß ſich
unſre Weisheit in alle ihre Werke miſchen ſoll;
und am Ende macht ſie es doch vielleicht eben ſo
gut, als wir es mit unſrer ganzen Klugheit wuͤr-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/16>, abgerufen am 24.11.2024.
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