Sinne wirken, oder die unsre gegenwärtige Ver- fassung uns ins Gemüthe bringt, und zwischen denen, die sich der Verstand zu betrachten vorge- sezt hat; dieser macht eben das Beschwerliche und Ermüdende der Arbeit aus.
Der alte Dichter sah die Natur, ohne zu wis- sen, daß er diese Betrachtung als seine Bestim- mung, oder als das Mittel zu gewissen Absichten zu betrachten hätte. Sie malte sich also in seiner Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinselstrich beygetragen, oder sie in ihrer Zeichnung geleitet hätte. Unsere Dichter, wenn sie die Natur beob- achten, thun es schon immer in der Absicht, sie zu schildern, sie wollen sie gern schön sehen, oder we- nigstens so, wie sie sich schön ausdrücken läßt; und dadurch wird das Gemälde ein Gemische von wahren Eindrücken, von bloß eingebildeten Zügen ihrer Einbildungskraft, und von abstrakten Be- griffen, die sie durch Unterricht und Ueberlieferung bekommen haben.
Also schon der Weg, die Sachen selbst ken- nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus-
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der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Sinne wirken, oder die unſre gegenwaͤrtige Ver- faſſung uns ins Gemuͤthe bringt, und zwiſchen denen, die ſich der Verſtand zu betrachten vorge- ſezt hat; dieſer macht eben das Beſchwerliche und Ermuͤdende der Arbeit aus.
Der alte Dichter ſah die Natur, ohne zu wiſ- ſen, daß er dieſe Betrachtung als ſeine Beſtim- mung, oder als das Mittel zu gewiſſen Abſichten zu betrachten haͤtte. Sie malte ſich alſo in ſeiner Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinſelſtrich beygetragen, oder ſie in ihrer Zeichnung geleitet haͤtte. Unſere Dichter, wenn ſie die Natur beob- achten, thun es ſchon immer in der Abſicht, ſie zu ſchildern, ſie wollen ſie gern ſchoͤn ſehen, oder we- nigſtens ſo, wie ſie ſich ſchoͤn ausdruͤcken laͤßt; und dadurch wird das Gemaͤlde ein Gemiſche von wahren Eindruͤcken, von bloß eingebildeten Zuͤgen ihrer Einbildungskraft, und von abſtrakten Be- griffen, die ſie durch Unterricht und Ueberlieferung bekommen haben.
Alſo ſchon der Weg, die Sachen ſelbſt ken- nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus-
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der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Sinne wirken, oder die unſre gegenwaͤrtige Ver-
faſſung uns ins Gemuͤthe bringt, und zwiſchen
denen, die ſich der Verſtand zu betrachten vorge-
ſezt hat; dieſer macht eben das Beſchwerliche und
Ermuͤdende der Arbeit aus.
Der alte Dichter ſah die Natur, ohne zu wiſ-
ſen, daß er dieſe Betrachtung als ſeine Beſtim-
mung, oder als das Mittel zu gewiſſen Abſichten
zu betrachten haͤtte. Sie malte ſich alſo in ſeiner
Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinſelſtrich
beygetragen, oder ſie in ihrer Zeichnung geleitet
haͤtte. Unſere Dichter, wenn ſie die Natur beob-
achten, thun es ſchon immer in der Abſicht, ſie zu
ſchildern, ſie wollen ſie gern ſchoͤn ſehen, oder we-
nigſtens ſo, wie ſie ſich ſchoͤn ausdruͤcken laͤßt;
und dadurch wird das Gemaͤlde ein Gemiſche von
wahren Eindruͤcken, von bloß eingebildeten Zuͤgen
ihrer Einbildungskraft, und von abſtrakten Be-
griffen, die ſie durch Unterricht und Ueberlieferung
bekommen haben.
Alſo ſchon der Weg, die Sachen ſelbſt ken-
nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/141>, abgerufen am 23.11.2024.
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