starb.*) Die erschröcklichsten Zufälle der Wasser- scheuen, die grausamsten brennenden Schmerzen im Kopfe, im Munde, Gaumen, Schlunde und in der Stelle des Bißes, die unerträgliche Bangigkeit und Furcht, der unwiderstehliche Trieb die Umstehenden zu beißen und anzuspeyen, die Schröckbilder bey wa- chendem sowohl als schlafendem Zustande, die aufs Höchste überspannte Reizbarkeit der Sinnen benehmen doch dem unglücklichen Kranken weder das Bewustseyn seiner selbst, noch das Vermögen vernünftig zu den- ken, und zu reden, noch den guten Willen, Nieman- den zu schaden. Mehrere dergleichen Beyspiele werde ich im 2ten Theile anführen.
In den gefährlichsten Krankheiten läßt sich zu- weilen der Kranke schlechterdings nicht bereden, daß er krank seye: Man solle ihn nur aus dem Bette las- sen, so werde er uns bald von seiner Gesundheit über- zeugen. Woher hat der Kranke dieses Gefühl von Kraft und Wohlbefinden? Tiedemann sagt: weil sich in sei- nem Gehirne die Ideen eben so leicht und eben so leb- haft bewegen, als bey völliger Gesundheit. Pechlin erzählt das Beyspiel eines Knaben von einer üblen Leibes- beschaffenheit, der von Würmern sehr geplagt war, und einen solchen Hunger hatte, daß ihn die übermäs- sigste Menge von Speisen nicht sättigen konnte; dem- ohngeachtet hatte dieser Knabe während seiner langen Krankheit ein außerordentliches Gedächtniß und ein mehr als mittelmäßiges Genie; aber er berlohr bei- des, sobald seine Gesundheit hergestellt worden. Ein
an-
*)Vol. I. P. II. pag. 34.
ſtarb.*) Die erſchroͤcklichſten Zufaͤlle der Waſſer- ſcheuen, die grauſamſten brennenden Schmerzen im Kopfe, im Munde, Gaumen, Schlunde und in der Stelle des Bißes, die unertraͤgliche Bangigkeit und Furcht, der unwiderſtehliche Trieb die Umſtehenden zu beißen und anzuſpeyen, die Schroͤckbilder bey wa- chendem ſowohl als ſchlafendem Zuſtande, die aufs Hoͤchſte uͤberſpannte Reizbarkeit der Sinnen benehmen doch dem ungluͤcklichen Kranken weder das Bewuſtſeyn ſeiner ſelbſt, noch das Vermoͤgen vernuͤnftig zu den- ken, und zu reden, noch den guten Willen, Nieman- den zu ſchaden. Mehrere dergleichen Beyſpiele werde ich im 2ten Theile anfuͤhren.
In den gefaͤhrlichſten Krankheiten laͤßt ſich zu- weilen der Kranke ſchlechterdings nicht bereden, daß er krank ſeye: Man ſolle ihn nur aus dem Bette laſ- ſen, ſo werde er uns bald von ſeiner Geſundheit uͤber- zeugen. Woher hat der Kranke dieſes Gefuͤhl von Kraft und Wohlbefinden? Tiedemann ſagt: weil ſich in ſei- nem Gehirne die Ideen eben ſo leicht und eben ſo leb- haft bewegen, als bey voͤlliger Geſundheit. Pechlin erzaͤhlt das Beyſpiel eines Knaben von einer uͤblen Leibes- beſchaffenheit, der von Wuͤrmern ſehr geplagt war, und einen ſolchen Hunger hatte, daß ihn die uͤbermaͤſ- ſigſte Menge von Speiſen nicht ſaͤttigen konnte; dem- ohngeachtet hatte dieſer Knabe waͤhrend ſeiner langen Krankheit ein außerordentliches Gedaͤchtniß und ein mehr als mittelmaͤßiges Genie; aber er berlohr bei- des, ſobald ſeine Geſundheit hergeſtellt worden. Ein
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*)Vol. I. P. II. pag. 34.
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ſtarb. *) Die erſchroͤcklichſten Zufaͤlle der Waſſer-
ſcheuen, die grauſamſten brennenden Schmerzen im
Kopfe, im Munde, Gaumen, Schlunde und in der
Stelle des Bißes, die unertraͤgliche Bangigkeit und
Furcht, der unwiderſtehliche Trieb die Umſtehenden
zu beißen und anzuſpeyen, die Schroͤckbilder bey wa-
chendem ſowohl als ſchlafendem Zuſtande, die aufs
Hoͤchſte uͤberſpannte Reizbarkeit der Sinnen benehmen
doch dem ungluͤcklichen Kranken weder das Bewuſtſeyn
ſeiner ſelbſt, noch das Vermoͤgen vernuͤnftig zu den-
ken, und zu reden, noch den guten Willen, Nieman-
den zu ſchaden. Mehrere dergleichen Beyſpiele werde
ich im 2ten Theile anfuͤhren.
In den gefaͤhrlichſten Krankheiten laͤßt ſich zu-
weilen der Kranke ſchlechterdings nicht bereden, daß
er krank ſeye: Man ſolle ihn nur aus dem Bette laſ-
ſen, ſo werde er uns bald von ſeiner Geſundheit uͤber-
zeugen. Woher hat der Kranke dieſes Gefuͤhl von Kraft
und Wohlbefinden? Tiedemann ſagt: weil ſich in ſei-
nem Gehirne die Ideen eben ſo leicht und eben ſo leb-
haft bewegen, als bey voͤlliger Geſundheit. Pechlin
erzaͤhlt das Beyſpiel eines Knaben von einer uͤblen Leibes-
beſchaffenheit, der von Wuͤrmern ſehr geplagt war,
und einen ſolchen Hunger hatte, daß ihn die uͤbermaͤſ-
ſigſte Menge von Speiſen nicht ſaͤttigen konnte; dem-
ohngeachtet hatte dieſer Knabe waͤhrend ſeiner langen
Krankheit ein außerordentliches Gedaͤchtniß und ein
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*) Vol. I. P. II. pag. 34.
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/72>, abgerufen am 24.11.2024.
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