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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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glaubte auf der höchsten Stufe eines Nervenfaulsiebers
(in agmine morbi) er seye der Länge nach in der Mitte
entzwey gespalten, oder er empfand sein ganzes Da-
seyn gedoppelt, so, daß er immer wähnte, ein ande-
rer Er läge neben ihm. -- Ein anderer, der die Lun-
genentzündung hatte, glaubte auf eben der Höhe der
Krankheit, er seye quer über die Magengegend abge-
schnitten, und der untere Theil seye todt. Tiedemann
führt das Beyspiel von Herrn Moser an, welcher mit
der rechten Seite des Gehirns vernünftig dachte, mit
der linken aber faselte, und mit jener die Faseleyen
dieser genau beobachtete, und aufs deutlichste von den
Ideen der rechten Seite unterscheiden konnte.

In dergleichen Fällen muß offenbar noch ein
Reiz von ganz anderer Art mit im Spiele seyn, obschon
wir ihn nicht im geringsten fühlen. Wie unerklärbar
wirkt jener Reiz, der bey Anschoppungen des Milzes
oder anderer Baucheingeweide eine solche unglückseelige
Anlage bewirkt, wodurch der Mensch, bey dem We-
hen eines gewissen Windes, unwiderstehlich des Lebens
müde, gewaltsam zum Selbstmord hingeschleppt wird!
Der mächtige Reiz der Gichtmaterie liegt einige Tage
vor dem Ausbruch der Gichtanfälle noch unthätig, oh-
ne die geringste Ungemächlichkeit im Körper; eben so
erregt er kurz vor seinem Ausbruche auf eine uns un-
bekannte Weise eine außerordentliche Eßlust; wie
grausam tobt er dann, wenn er die Häute des Magens
oder der Gedärme befällt! Alle Krankheiten, welche
zu bestimmten Zeiten ihre Anfälle machen, diese mögen
ihren Grund in einer besondern Stimmung der Nerven,

oder
D 2

glaubte auf der hoͤchſten Stufe eines Nervenfaulſiebers
(in agmine morbi) er ſeye der Laͤnge nach in der Mitte
entzwey geſpalten, oder er empfand ſein ganzes Da-
ſeyn gedoppelt, ſo, daß er immer waͤhnte, ein ande-
rer Er laͤge neben ihm. — Ein anderer, der die Lun-
genentzuͤndung hatte, glaubte auf eben der Hoͤhe der
Krankheit, er ſeye quer uͤber die Magengegend abge-
ſchnitten, und der untere Theil ſeye todt. Tiedemann
fuͤhrt das Beyſpiel von Herrn Moſer an, welcher mit
der rechten Seite des Gehirns vernuͤnftig dachte, mit
der linken aber faſelte, und mit jener die Faſeleyen
dieſer genau beobachtete, und aufs deutlichſte von den
Ideen der rechten Seite unterſcheiden konnte.

In dergleichen Faͤllen muß offenbar noch ein
Reiz von ganz anderer Art mit im Spiele ſeyn, obſchon
wir ihn nicht im geringſten fuͤhlen. Wie unerklaͤrbar
wirkt jener Reiz, der bey Anſchoppungen des Milzes
oder anderer Baucheingeweide eine ſolche ungluͤckſeelige
Anlage bewirkt, wodurch der Menſch, bey dem We-
hen eines gewiſſen Windes, unwiderſtehlich des Lebens
muͤde, gewaltſam zum Selbſtmord hingeſchleppt wird!
Der maͤchtige Reiz der Gichtmaterie liegt einige Tage
vor dem Ausbruch der Gichtanfaͤlle noch unthaͤtig, oh-
ne die geringſte Ungemaͤchlichkeit im Koͤrper; eben ſo
erregt er kurz vor ſeinem Ausbruche auf eine uns un-
bekannte Weiſe eine außerordentliche Eßluſt; wie
grauſam tobt er dann, wenn er die Haͤute des Magens
oder der Gedaͤrme befaͤllt! Alle Krankheiten, welche
zu beſtimmten Zeiten ihre Anfaͤlle machen, dieſe moͤgen
ihren Grund in einer beſondern Stimmung der Nerven,

oder
D 2
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[51/0070] glaubte auf der hoͤchſten Stufe eines Nervenfaulſiebers (in agmine morbi) er ſeye der Laͤnge nach in der Mitte entzwey geſpalten, oder er empfand ſein ganzes Da- ſeyn gedoppelt, ſo, daß er immer waͤhnte, ein ande- rer Er laͤge neben ihm. — Ein anderer, der die Lun- genentzuͤndung hatte, glaubte auf eben der Hoͤhe der Krankheit, er ſeye quer uͤber die Magengegend abge- ſchnitten, und der untere Theil ſeye todt. Tiedemann fuͤhrt das Beyſpiel von Herrn Moſer an, welcher mit der rechten Seite des Gehirns vernuͤnftig dachte, mit der linken aber faſelte, und mit jener die Faſeleyen dieſer genau beobachtete, und aufs deutlichſte von den Ideen der rechten Seite unterſcheiden konnte. In dergleichen Faͤllen muß offenbar noch ein Reiz von ganz anderer Art mit im Spiele ſeyn, obſchon wir ihn nicht im geringſten fuͤhlen. Wie unerklaͤrbar wirkt jener Reiz, der bey Anſchoppungen des Milzes oder anderer Baucheingeweide eine ſolche ungluͤckſeelige Anlage bewirkt, wodurch der Menſch, bey dem We- hen eines gewiſſen Windes, unwiderſtehlich des Lebens muͤde, gewaltſam zum Selbſtmord hingeſchleppt wird! Der maͤchtige Reiz der Gichtmaterie liegt einige Tage vor dem Ausbruch der Gichtanfaͤlle noch unthaͤtig, oh- ne die geringſte Ungemaͤchlichkeit im Koͤrper; eben ſo erregt er kurz vor ſeinem Ausbruche auf eine uns un- bekannte Weiſe eine außerordentliche Eßluſt; wie grauſam tobt er dann, wenn er die Haͤute des Magens oder der Gedaͤrme befaͤllt! Alle Krankheiten, welche zu beſtimmten Zeiten ihre Anfaͤlle machen, dieſe moͤgen ihren Grund in einer beſondern Stimmung der Nerven, oder D 2

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/70>, abgerufen am 24.11.2024.