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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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Was kann uns aber in unbekannten Fällen be-
lehren? Wie können wir uns zu dem bloßen Zuschau-
en bestimmen lassen, ohne das Leben unserer Kran-
ken aufs Spiel zu setzen? Ist die Leibesbeschaffenheit
meines Kranken gut; sind die Kräfte den Umständen
angemessen; sind die vorfallenden Erscheinungen keine
einer ähnlichen Krankheit ungewöhnlichen Erscheinun-
gen; ereignen sie sich um die Zeitpunkte der Entschei-
dungen, und hat man Ursache, deren glücklichen Er-
folg dem bisherigen Verlauf der Krankheit zu Folge
zu erwarten: so verzage ich nie, so unerklärbar und
schrecklich mir auch das Benehmen der Natur vorkom-
men mag.

Ueber dieß kann der Zufall, wenn er gehörig
benützt wird, nicht selten unserer Schüchternheit zu-
vorkommen. Aber dieser wird allermeist für ein blin-
des Ungefähr gehalten. Philosophen, Aerzte, Na-
turforscher, und blindes Ungefähr! Wo es bestimm-
te Wirkungen giebt, da giebt es auch bestimmte Ur-
sachen, und es mögen diese Wirkungen durch bloßen
Zufall, durch einen Marktschreyer oder ein altes Müt-
terchen veranlasset worden seyn, so verdienen sie die
Aufmerksamkeit des philosophischen Arztes. Vallis-
neri
erzählt von einem Mädchen, welches an einem
doppelten dreytägigen Wechselfieber vom ersten bis den
dreyßigsten Merz in äußerster Entkräftung da lag.
Vom siebenten an war es, den Kopf ausgenommen,
ganz unbeweglich. Es hatte keine andere Hilfe als
Wasser; und bekam dennoch den sieben und zwanzig-
sten an beyden Hinterbacken den Brand, der freylich

von
Gall I. Band. M m

Was kann uns aber in unbekannten Faͤllen be-
lehren? Wie koͤnnen wir uns zu dem bloßen Zuſchau-
en beſtimmen laſſen, ohne das Leben unſerer Kran-
ken aufs Spiel zu ſetzen? Iſt die Leibesbeſchaffenheit
meines Kranken gut; ſind die Kraͤfte den Umſtaͤnden
angemeſſen; ſind die vorfallenden Erſcheinungen keine
einer aͤhnlichen Krankheit ungewoͤhnlichen Erſcheinun-
gen; ereignen ſie ſich um die Zeitpunkte der Entſchei-
dungen, und hat man Urſache, deren gluͤcklichen Er-
folg dem bisherigen Verlauf der Krankheit zu Folge
zu erwarten: ſo verzage ich nie, ſo unerklaͤrbar und
ſchrecklich mir auch das Benehmen der Natur vorkom-
men mag.

Ueber dieß kann der Zufall, wenn er gehoͤrig
benuͤtzt wird, nicht ſelten unſerer Schuͤchternheit zu-
vorkommen. Aber dieſer wird allermeiſt fuͤr ein blin-
des Ungefaͤhr gehalten. Philoſophen, Aerzte, Na-
turforſcher, und blindes Ungefaͤhr! Wo es beſtimm-
te Wirkungen giebt, da giebt es auch beſtimmte Ur-
ſachen, und es moͤgen dieſe Wirkungen durch bloßen
Zufall, durch einen Marktſchreyer oder ein altes Muͤt-
terchen veranlaſſet worden ſeyn, ſo verdienen ſie die
Aufmerkſamkeit des philoſophiſchen Arztes. Valliſ-
neri
erzaͤhlt von einem Maͤdchen, welches an einem
doppelten dreytaͤgigen Wechſelfieber vom erſten bis den
dreyßigſten Merz in aͤußerſter Entkraͤftung da lag.
Vom ſiebenten an war es, den Kopf ausgenommen,
ganz unbeweglich. Es hatte keine andere Hilfe als
Waſſer; und bekam dennoch den ſieben und zwanzig-
ſten an beyden Hinterbacken den Brand, der freylich

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Gall I. Band. M m
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[545/0564] Was kann uns aber in unbekannten Faͤllen be- lehren? Wie koͤnnen wir uns zu dem bloßen Zuſchau- en beſtimmen laſſen, ohne das Leben unſerer Kran- ken aufs Spiel zu ſetzen? Iſt die Leibesbeſchaffenheit meines Kranken gut; ſind die Kraͤfte den Umſtaͤnden angemeſſen; ſind die vorfallenden Erſcheinungen keine einer aͤhnlichen Krankheit ungewoͤhnlichen Erſcheinun- gen; ereignen ſie ſich um die Zeitpunkte der Entſchei- dungen, und hat man Urſache, deren gluͤcklichen Er- folg dem bisherigen Verlauf der Krankheit zu Folge zu erwarten: ſo verzage ich nie, ſo unerklaͤrbar und ſchrecklich mir auch das Benehmen der Natur vorkom- men mag. Ueber dieß kann der Zufall, wenn er gehoͤrig benuͤtzt wird, nicht ſelten unſerer Schuͤchternheit zu- vorkommen. Aber dieſer wird allermeiſt fuͤr ein blin- des Ungefaͤhr gehalten. Philoſophen, Aerzte, Na- turforſcher, und blindes Ungefaͤhr! Wo es beſtimm- te Wirkungen giebt, da giebt es auch beſtimmte Ur- ſachen, und es moͤgen dieſe Wirkungen durch bloßen Zufall, durch einen Marktſchreyer oder ein altes Muͤt- terchen veranlaſſet worden ſeyn, ſo verdienen ſie die Aufmerkſamkeit des philoſophiſchen Arztes. Valliſ- neri erzaͤhlt von einem Maͤdchen, welches an einem doppelten dreytaͤgigen Wechſelfieber vom erſten bis den dreyßigſten Merz in aͤußerſter Entkraͤftung da lag. Vom ſiebenten an war es, den Kopf ausgenommen, ganz unbeweglich. Es hatte keine andere Hilfe als Waſſer; und bekam dennoch den ſieben und zwanzig- ſten an beyden Hinterbacken den Brand, der freylich von Gall I. Band. M m

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/564>, abgerufen am 09.05.2024.