der Kranke war ohne Puls, ganz erstarrt, konnte nicht reden, und vernahm nichts von allem, was um ihn vorgieng. Er öffnete ihm den Mund, und goß ihm einen Gerstentrank mit weißem Weine gemischt ein; alsobald öffnete der Kranke die Augen, fieng an zu hören, und zu reden, und erkannte die Umstehenden. Dann gab er ihm in Wein getunktes Brod, und den siebenzehnten Tag befand sich der Kranke wohl.
Dieses ist ein Beweiß, wie wenig die Natur in der wahren Entkräftung vermag, und zugleich ei- ne Lehre, wie sich der Arzt dabey in Rücksicht der Le- bensordnung zu verhalten habe. "Der Arzt soll sich- überall und allzeit zur Pflicht machen, sagt Celsus, auf die Kräfte des Kranken aufmerksam zu seyn, da- mit er sie, so lange sie übermäßig sind, mittelst der Enthaltsamkeit in Schranken halten, und ihnen, wo ein zu großer Verfall derselben zu befürchten ist, alsobald mit angemeßner Nahrung zu Hilfe kommen könne. Denn man muß den Kranken weder mit Ueberfluß überladen, noch den Geschwächten durch Hunger zu Grunde richten."
Die wichtigste Regel hierin ist diese, daß die Nahrungsmittel jedesmal mit den Daukräften in ge- radem Verhältnisse stehen müssen. Nun aber sind die Daukräften auf der höchsten Höhe der Krankheit so zu sagen ganz unthätig, folglich muß man in diesem Zeitpunkt den Kranken gar keine Nahrung geben: in der äußersten Schwäche muß die Nahrung ebenfalls schwach und mit der Zunahme der Kräfte stärker ein- gerichtet werden. Niemand kann, wie ich schon oben
ge-
der Kranke war ohne Puls, ganz erſtarrt, konnte nicht reden, und vernahm nichts von allem, was um ihn vorgieng. Er oͤffnete ihm den Mund, und goß ihm einen Gerſtentrank mit weißem Weine gemiſcht ein; alſobald oͤffnete der Kranke die Augen, fieng an zu hoͤren, und zu reden, und erkannte die Umſtehenden. Dann gab er ihm in Wein getunktes Brod, und den ſiebenzehnten Tag befand ſich der Kranke wohl.
Dieſes iſt ein Beweiß, wie wenig die Natur in der wahren Entkraͤftung vermag, und zugleich ei- ne Lehre, wie ſich der Arzt dabey in Ruͤckſicht der Le- bensordnung zu verhalten habe. „Der Arzt ſoll ſich- uͤberall und allzeit zur Pflicht machen, ſagt Celſus, auf die Kraͤfte des Kranken aufmerkſam zu ſeyn, da- mit er ſie, ſo lange ſie uͤbermaͤßig ſind, mittelſt der Enthaltſamkeit in Schranken halten, und ihnen, wo ein zu großer Verfall derſelben zu befuͤrchten iſt, alſobald mit angemeßner Nahrung zu Hilfe kommen koͤnne. Denn man muß den Kranken weder mit Ueberfluß uͤberladen, noch den Geſchwaͤchten durch Hunger zu Grunde richten.“
Die wichtigſte Regel hierin iſt dieſe, daß die Nahrungsmittel jedesmal mit den Daukraͤften in ge- radem Verhaͤltniſſe ſtehen muͤſſen. Nun aber ſind die Daukraͤften auf der hoͤchſten Hoͤhe der Krankheit ſo zu ſagen ganz unthaͤtig, folglich muß man in dieſem Zeitpunkt den Kranken gar keine Nahrung geben: in der aͤußerſten Schwaͤche muß die Nahrung ebenfalls ſchwach und mit der Zunahme der Kraͤfte ſtaͤrker ein- gerichtet werden. Niemand kann, wie ich ſchon oben
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der Kranke war ohne Puls, ganz erſtarrt, konnte
nicht reden, und vernahm nichts von allem, was um
ihn vorgieng. Er oͤffnete ihm den Mund, und goß ihm
einen Gerſtentrank mit weißem Weine gemiſcht ein;
alſobald oͤffnete der Kranke die Augen, fieng an zu
hoͤren, und zu reden, und erkannte die Umſtehenden.
Dann gab er ihm in Wein getunktes Brod, und
den ſiebenzehnten Tag befand ſich der Kranke wohl.
Dieſes iſt ein Beweiß, wie wenig die Natur
in der wahren Entkraͤftung vermag, und zugleich ei-
ne Lehre, wie ſich der Arzt dabey in Ruͤckſicht der Le-
bensordnung zu verhalten habe. „Der Arzt ſoll ſich-
uͤberall und allzeit zur Pflicht machen, ſagt Celſus,
auf die Kraͤfte des Kranken aufmerkſam zu ſeyn, da-
mit er ſie, ſo lange ſie uͤbermaͤßig ſind, mittelſt der
Enthaltſamkeit in Schranken halten, und ihnen, wo ein
zu großer Verfall derſelben zu befuͤrchten iſt, alſobald
mit angemeßner Nahrung zu Hilfe kommen koͤnne.
Denn man muß den Kranken weder mit Ueberfluß
uͤberladen, noch den Geſchwaͤchten durch Hunger zu
Grunde richten.“
Die wichtigſte Regel hierin iſt dieſe, daß die
Nahrungsmittel jedesmal mit den Daukraͤften in ge-
radem Verhaͤltniſſe ſtehen muͤſſen. Nun aber ſind die
Daukraͤften auf der hoͤchſten Hoͤhe der Krankheit ſo zu
ſagen ganz unthaͤtig, folglich muß man in dieſem
Zeitpunkt den Kranken gar keine Nahrung geben: in
der aͤußerſten Schwaͤche muß die Nahrung ebenfalls
ſchwach und mit der Zunahme der Kraͤfte ſtaͤrker ein-
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/544>, abgerufen am 22.11.2024.
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