Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
§. 89.

Aehnliche Erfahrungen brachten den Haen auf
folgende Gedanken: "Man muß die wahre Schwäche
und die scheinbare gehörig unterscheiden, ehe man be-
hauptet, die Kranken sind schwach. Diese wahre
Schwäche ist in bösartigen Krankheiten so selten, daß
man sich wundern muß, wie derselben in solchen Krank-
heiten so oft gedacht wird. Wer seine eigene Er-
fahrung sowohl, als fremde darüber unpartheyisch zu
Rathe zieht, wird mir hierinnen Recht geben müssen.
Wie oft ist nicht der Fall in hitzigen Krankheiten,
daß bey gefährlichen Versetzungen der Krankheitsma-
terie, wenn die Todesgefahr schon vor der Thüre zu
seyn scheint, und man die Frage aufwirft, ob man
zur Verhütung derselben das Aeußerste wagen, und
dem Kranken noch zur Ader laßen solle, welches man
außer der dringendsten Gefahr nie wagen würde, das
alsdann vorgenommene und wiederholte Aderlaßen,
von dem Kranken so gut überstanden wird, daß er,
anstatt, daß er vorher ganz schwach und kraftlos
zu seyn schien, nunmehr nach der Aderläß so viel
Kräfte erhält, daß er die Kochung der Krankheits-
materie glücklich übersteht. -- -- Es folgt auch da-
raus, wie schwer es ist, die Zeichen der wahren Ent-
kräftung zu bestimmen. Wenn nicht offenbar erschö-
pfende Ursachen vorhergegangen sind, als: große Ent-
leerungen, langwierige Krankheiten u. s. w. so ist
gewiß auch der höchste Grad von Schwäche nur Täu-
schung. Wie hätten sonst Sydenham, Riviere,
Botallus, Marescotti
und Sinapius bloß durch

reich-
§. 89.

Aehnliche Erfahrungen brachten den Haen auf
folgende Gedanken: „Man muß die wahre Schwaͤche
und die ſcheinbare gehoͤrig unterſcheiden, ehe man be-
hauptet, die Kranken ſind ſchwach. Dieſe wahre
Schwaͤche iſt in boͤsartigen Krankheiten ſo ſelten, daß
man ſich wundern muß, wie derſelben in ſolchen Krank-
heiten ſo oft gedacht wird. Wer ſeine eigene Er-
fahrung ſowohl, als fremde daruͤber unpartheyiſch zu
Rathe zieht, wird mir hierinnen Recht geben muͤſſen.
Wie oft iſt nicht der Fall in hitzigen Krankheiten,
daß bey gefaͤhrlichen Verſetzungen der Krankheitsma-
terie, wenn die Todesgefahr ſchon vor der Thuͤre zu
ſeyn ſcheint, und man die Frage aufwirft, ob man
zur Verhuͤtung derſelben das Aeußerſte wagen, und
dem Kranken noch zur Ader laßen ſolle, welches man
außer der dringendſten Gefahr nie wagen wuͤrde, das
alsdann vorgenommene und wiederholte Aderlaßen,
von dem Kranken ſo gut uͤberſtanden wird, daß er,
anſtatt, daß er vorher ganz ſchwach und kraftlos
zu ſeyn ſchien, nunmehr nach der Aderlaͤß ſo viel
Kraͤfte erhaͤlt, daß er die Kochung der Krankheits-
materie gluͤcklich uͤberſteht. — — Es folgt auch da-
raus, wie ſchwer es iſt, die Zeichen der wahren Ent-
kraͤftung zu beſtimmen. Wenn nicht offenbar erſchoͤ-
pfende Urſachen vorhergegangen ſind, als: große Ent-
leerungen, langwierige Krankheiten u. ſ. w. ſo iſt
gewiß auch der hoͤchſte Grad von Schwaͤche nur Taͤu-
ſchung. Wie haͤtten ſonſt Sydenham, Riviere,
Botallus, Mareſcotti
und Sinapius bloß durch

reich-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0536" n="517"/>
            <div n="4">
              <head>§. 89.</head><lb/>
              <p>Aehnliche Erfahrungen brachten den <hi rendition="#fr">Haen</hi> auf<lb/>
folgende Gedanken: &#x201E;Man muß die wahre Schwa&#x0364;che<lb/>
und die &#x017F;cheinbare geho&#x0364;rig unter&#x017F;cheiden, ehe man be-<lb/>
hauptet, die Kranken &#x017F;ind &#x017F;chwach. Die&#x017F;e wahre<lb/>
Schwa&#x0364;che i&#x017F;t in bo&#x0364;sartigen Krankheiten &#x017F;o &#x017F;elten, daß<lb/>
man &#x017F;ich wundern muß, wie der&#x017F;elben in &#x017F;olchen Krank-<lb/>
heiten &#x017F;o oft gedacht wird. Wer &#x017F;eine eigene Er-<lb/>
fahrung &#x017F;owohl, als fremde daru&#x0364;ber unpartheyi&#x017F;ch zu<lb/>
Rathe zieht, wird mir hierinnen Recht geben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Wie oft i&#x017F;t nicht der Fall in hitzigen Krankheiten,<lb/>
daß bey gefa&#x0364;hrlichen Ver&#x017F;etzungen der Krankheitsma-<lb/>
terie, wenn die Todesgefahr &#x017F;chon vor der Thu&#x0364;re zu<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;cheint, und man die Frage aufwirft, ob man<lb/>
zur Verhu&#x0364;tung der&#x017F;elben das Aeußer&#x017F;te wagen, und<lb/>
dem Kranken noch zur Ader laßen &#x017F;olle, welches man<lb/>
außer der dringend&#x017F;ten Gefahr nie wagen wu&#x0364;rde, das<lb/>
alsdann vorgenommene und wiederholte Aderlaßen,<lb/>
von dem Kranken &#x017F;o gut u&#x0364;ber&#x017F;tanden wird, daß er,<lb/>
an&#x017F;tatt, daß er vorher ganz &#x017F;chwach und kraftlos<lb/>
zu &#x017F;eyn &#x017F;chien, nunmehr nach der Aderla&#x0364;ß &#x017F;o viel<lb/>
Kra&#x0364;fte erha&#x0364;lt, daß er die Kochung der Krankheits-<lb/>
materie glu&#x0364;cklich u&#x0364;ber&#x017F;teht. &#x2014; &#x2014; Es folgt auch da-<lb/>
raus, wie &#x017F;chwer es i&#x017F;t, die Zeichen der wahren Ent-<lb/>
kra&#x0364;ftung zu be&#x017F;timmen. Wenn nicht offenbar er&#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
pfende Ur&#x017F;achen vorhergegangen &#x017F;ind, als: große Ent-<lb/>
leerungen, langwierige Krankheiten u. &#x017F;. w. &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
gewiß auch der ho&#x0364;ch&#x017F;te Grad von Schwa&#x0364;che nur Ta&#x0364;u-<lb/>
&#x017F;chung. Wie ha&#x0364;tten &#x017F;on&#x017F;t <hi rendition="#fr">Sydenham, Riviere,<lb/>
Botallus, Mare&#x017F;cotti</hi> und <hi rendition="#fr">Sinapius</hi> bloß durch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">reich-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[517/0536] §. 89. Aehnliche Erfahrungen brachten den Haen auf folgende Gedanken: „Man muß die wahre Schwaͤche und die ſcheinbare gehoͤrig unterſcheiden, ehe man be- hauptet, die Kranken ſind ſchwach. Dieſe wahre Schwaͤche iſt in boͤsartigen Krankheiten ſo ſelten, daß man ſich wundern muß, wie derſelben in ſolchen Krank- heiten ſo oft gedacht wird. Wer ſeine eigene Er- fahrung ſowohl, als fremde daruͤber unpartheyiſch zu Rathe zieht, wird mir hierinnen Recht geben muͤſſen. Wie oft iſt nicht der Fall in hitzigen Krankheiten, daß bey gefaͤhrlichen Verſetzungen der Krankheitsma- terie, wenn die Todesgefahr ſchon vor der Thuͤre zu ſeyn ſcheint, und man die Frage aufwirft, ob man zur Verhuͤtung derſelben das Aeußerſte wagen, und dem Kranken noch zur Ader laßen ſolle, welches man außer der dringendſten Gefahr nie wagen wuͤrde, das alsdann vorgenommene und wiederholte Aderlaßen, von dem Kranken ſo gut uͤberſtanden wird, daß er, anſtatt, daß er vorher ganz ſchwach und kraftlos zu ſeyn ſchien, nunmehr nach der Aderlaͤß ſo viel Kraͤfte erhaͤlt, daß er die Kochung der Krankheits- materie gluͤcklich uͤberſteht. — — Es folgt auch da- raus, wie ſchwer es iſt, die Zeichen der wahren Ent- kraͤftung zu beſtimmen. Wenn nicht offenbar erſchoͤ- pfende Urſachen vorhergegangen ſind, als: große Ent- leerungen, langwierige Krankheiten u. ſ. w. ſo iſt gewiß auch der hoͤchſte Grad von Schwaͤche nur Taͤu- ſchung. Wie haͤtten ſonſt Sydenham, Riviere, Botallus, Mareſcotti und Sinapius bloß durch reich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/536
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/536>, abgerufen am 22.11.2024.