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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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jedesmal das ihrige bey der geringsten Veranlassung
von Außen, oder auch in den innern Gehirnwerkzeu-
gen. Sehr auffallend beweiset dieses die Hundswuth.
Diese bedauernswürdigen Elenden, da sie beym Anblick
einer Flüssigkeit so unerhörte Leiden auszustehen ha-
ben, und bey der unseeligen Geistesgegenwart die Ur-
sache und all das Grauenvolle ihres Zustandes erken-
nen, versetzen endlich ihre Einbildungskraft in eine so
reizbare Lage, daß jeder auch geringste glänzende Kör-
per, so gar jeder sich ihnen nährende Mensch die un-
ausstehliche Vorstellung von Wasser aufs lebhafteste
rege macht. Sie glauben den Hund, von dem sie ge-
bissen worden sind, zu sehen, wie er auf sie losgeht,
sie anfällt und verwundet; was nur immer einigen
Glanz hat, wird von ihrer Vorstellungsart in einen
Hund verwandelt; sie springen schreckvoll zurück, lau-
fen davon, und bitten die Umstehenden dringend um
Beystand und Rettung. Bey der ruhigsten Stille
hören sie das Geheul des Hundes, und sie fühlen ihren
Untergang so lebhaft, daß sie bey der geringsten Be-
wegung glauben, das Haus stürze über sie ein.*)

Alle körperlichen Hindernissen wirken im kran-
ken Zustande gerade so, wie etwan im Traume. Sie
erregen Vorstellungen und Gefühle, die wir bey ähn-
lichen Hindernissen im gesunden und wachenden Zu-
stande zu haben pflegen. Beynahe alle Kranken, die
man gewaltthätig im Bette zurückhält, die man bin-
det und gürtet, martern sich mit den angstvollesten

Vor-
*) Anton 2 St. de Staerk praecep. Medice Practica T. II.
p.
14.
N 2

jedesmal das ihrige bey der geringſten Veranlaſſung
von Außen, oder auch in den innern Gehirnwerkzeu-
gen. Sehr auffallend beweiſet dieſes die Hundswuth.
Dieſe bedauernswuͤrdigen Elenden, da ſie beym Anblick
einer Fluͤſſigkeit ſo unerhoͤrte Leiden auszuſtehen ha-
ben, und bey der unſeeligen Geiſtesgegenwart die Ur-
ſache und all das Grauenvolle ihres Zuſtandes erken-
nen, verſetzen endlich ihre Einbildungskraft in eine ſo
reizbare Lage, daß jeder auch geringſte glaͤnzende Koͤr-
per, ſo gar jeder ſich ihnen naͤhrende Menſch die un-
ausſtehliche Vorſtellung von Waſſer aufs lebhafteſte
rege macht. Sie glauben den Hund, von dem ſie ge-
biſſen worden ſind, zu ſehen, wie er auf ſie losgeht,
ſie anfaͤllt und verwundet; was nur immer einigen
Glanz hat, wird von ihrer Vorſtellungsart in einen
Hund verwandelt; ſie ſpringen ſchreckvoll zuruͤck, lau-
fen davon, und bitten die Umſtehenden dringend um
Beyſtand und Rettung. Bey der ruhigſten Stille
hoͤren ſie das Geheul des Hundes, und ſie fuͤhlen ihren
Untergang ſo lebhaft, daß ſie bey der geringſten Be-
wegung glauben, das Haus ſtuͤrze uͤber ſie ein.*)

Alle koͤrperlichen Hinderniſſen wirken im kran-
ken Zuſtande gerade ſo, wie etwan im Traume. Sie
erregen Vorſtellungen und Gefuͤhle, die wir bey aͤhn-
lichen Hinderniſſen im geſunden und wachenden Zu-
ſtande zu haben pflegen. Beynahe alle Kranken, die
man gewaltthaͤtig im Bette zuruͤckhaͤlt, die man bin-
det und guͤrtet, martern ſich mit den angſtvolleſten

Vor-
*) Anton 2 St. de Stærk præcep. Medice Practica T. II.
p.
14.
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[195/0214] jedesmal das ihrige bey der geringſten Veranlaſſung von Außen, oder auch in den innern Gehirnwerkzeu- gen. Sehr auffallend beweiſet dieſes die Hundswuth. Dieſe bedauernswuͤrdigen Elenden, da ſie beym Anblick einer Fluͤſſigkeit ſo unerhoͤrte Leiden auszuſtehen ha- ben, und bey der unſeeligen Geiſtesgegenwart die Ur- ſache und all das Grauenvolle ihres Zuſtandes erken- nen, verſetzen endlich ihre Einbildungskraft in eine ſo reizbare Lage, daß jeder auch geringſte glaͤnzende Koͤr- per, ſo gar jeder ſich ihnen naͤhrende Menſch die un- ausſtehliche Vorſtellung von Waſſer aufs lebhafteſte rege macht. Sie glauben den Hund, von dem ſie ge- biſſen worden ſind, zu ſehen, wie er auf ſie losgeht, ſie anfaͤllt und verwundet; was nur immer einigen Glanz hat, wird von ihrer Vorſtellungsart in einen Hund verwandelt; ſie ſpringen ſchreckvoll zuruͤck, lau- fen davon, und bitten die Umſtehenden dringend um Beyſtand und Rettung. Bey der ruhigſten Stille hoͤren ſie das Geheul des Hundes, und ſie fuͤhlen ihren Untergang ſo lebhaft, daß ſie bey der geringſten Be- wegung glauben, das Haus ſtuͤrze uͤber ſie ein. *) Alle koͤrperlichen Hinderniſſen wirken im kran- ken Zuſtande gerade ſo, wie etwan im Traume. Sie erregen Vorſtellungen und Gefuͤhle, die wir bey aͤhn- lichen Hinderniſſen im geſunden und wachenden Zu- ſtande zu haben pflegen. Beynahe alle Kranken, die man gewaltthaͤtig im Bette zuruͤckhaͤlt, die man bin- det und guͤrtet, martern ſich mit den angſtvolleſten Vor- *) Anton 2 St. de Stærk præcep. Medice Practica T. II. p. 14. N 2

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/214>, abgerufen am 24.11.2024.