Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Menschen kaum aus dem Wege gehen." Wenn
dieses auch nicht alles nach dem Buchstaben wahr ist,
so bleibt es doch die Hauptsache. Warum übersieht
der Gelehrte in einem Augenblicke die Gestalt, die
Verbindung, den Sinn von einer Menge Buchstaben,
und zeichnet die so verschiedenen Figuren mit bewun-
derungswürdiger Fertigkeit aufs Papier, während dem
doch seine Aufmerksamkeit nur auf den Gegenstand und
den Ausdruck gerichtet ist? Und warum ist dieses ei-
nem Lappländer ganz unbegreiflich? -- Weil das Be-
dürfniß des Lernens so wenig die thierische Natur,
als die angebohrnen Kunstfertigkeiten die menschliche
Natur ausschließen, und weil Uebung, Gewohnheit
und Erfahrung auch auf das Wissen und die Lebens-
art der Thiere einen Einfluß haben, der freilich beym
Menschen desto allgemeiner seyn mußte, je uneinge-
schränkter sein Fähigkeiten und seine Lebensweise seyn
sollten.

§. 31.
In Rücksicht der sinnlichen Empfindungen.

"An einen andern Orte sagt Herder: Die künst-
liche Bildung unsrer Ideen von Kindheit auf erweiset
(die Immaterialität der Seele) und der langsame
Gang, auf welchem die Seele nicht nur spät ihrer selbst
bewust wird, sondern auch mit Mühe ihre Sinnen
brauchen lernt. Mehr als ein Psycholog hat die
Kunststücke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe,
Gestalt, Größe, Entfernung Begriffe erhält und durch
die es sehen lernt. Der körperliche Sinn lernt nichts:

denn

dem Menſchen kaum aus dem Wege gehen.„ Wenn
dieſes auch nicht alles nach dem Buchſtaben wahr iſt,
ſo bleibt es doch die Hauptſache. Warum uͤberſieht
der Gelehrte in einem Augenblicke die Geſtalt, die
Verbindung, den Sinn von einer Menge Buchſtaben,
und zeichnet die ſo verſchiedenen Figuren mit bewun-
derungswuͤrdiger Fertigkeit aufs Papier, waͤhrend dem
doch ſeine Aufmerkſamkeit nur auf den Gegenſtand und
den Ausdruck gerichtet iſt? Und warum iſt dieſes ei-
nem Lapplaͤnder ganz unbegreiflich? — Weil das Be-
duͤrfniß des Lernens ſo wenig die thieriſche Natur,
als die angebohrnen Kunſtfertigkeiten die menſchliche
Natur ausſchließen, und weil Uebung, Gewohnheit
und Erfahrung auch auf das Wiſſen und die Lebens-
art der Thiere einen Einfluß haben, der freilich beym
Menſchen deſto allgemeiner ſeyn mußte, je uneinge-
ſchraͤnkter ſein Faͤhigkeiten und ſeine Lebensweiſe ſeyn
ſollten.

§. 31.
In Ruͤckſicht der ſinnlichen Empfindungen.

“An einen andern Orte ſagt Herder: Die kuͤnſt-
liche Bildung unſrer Ideen von Kindheit auf erweiſet
(die Immaterialitaͤt der Seele) und der langſame
Gang, auf welchem die Seele nicht nur ſpaͤt ihrer ſelbſt
bewuſt wird, ſondern auch mit Muͤhe ihre Sinnen
brauchen lernt. Mehr als ein Pſycholog hat die
Kunſtſtuͤcke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe,
Geſtalt, Groͤße, Entfernung Begriffe erhaͤlt und durch
die es ſehen lernt. Der koͤrperliche Sinn lernt nichts:

denn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0143" n="124"/>
dem Men&#x017F;chen kaum aus dem Wege gehen.&#x201E; Wenn<lb/>
die&#x017F;es auch nicht alles nach dem Buch&#x017F;taben wahr i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o bleibt es doch die Haupt&#x017F;ache. Warum u&#x0364;ber&#x017F;ieht<lb/>
der Gelehrte in einem Augenblicke die Ge&#x017F;talt, die<lb/>
Verbindung, den Sinn von einer Menge Buch&#x017F;taben,<lb/>
und zeichnet die &#x017F;o ver&#x017F;chiedenen Figuren mit bewun-<lb/>
derungswu&#x0364;rdiger Fertigkeit aufs Papier, wa&#x0364;hrend dem<lb/>
doch &#x017F;eine Aufmerk&#x017F;amkeit nur auf den Gegen&#x017F;tand und<lb/>
den Ausdruck gerichtet i&#x017F;t? Und warum i&#x017F;t die&#x017F;es ei-<lb/>
nem Lappla&#x0364;nder ganz unbegreiflich? &#x2014; Weil das Be-<lb/>
du&#x0364;rfniß des Lernens &#x017F;o wenig die thieri&#x017F;che Natur,<lb/>
als die angebohrnen Kun&#x017F;tfertigkeiten die men&#x017F;chliche<lb/>
Natur aus&#x017F;chließen, und weil Uebung, Gewohnheit<lb/>
und Erfahrung auch auf das Wi&#x017F;&#x017F;en und die Lebens-<lb/>
art der Thiere einen Einfluß haben, der freilich beym<lb/>
Men&#x017F;chen de&#x017F;to allgemeiner &#x017F;eyn mußte, je uneinge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkter &#x017F;ein Fa&#x0364;higkeiten und &#x017F;eine Lebenswei&#x017F;e &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;ollten.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 31.<lb/><hi rendition="#b">In Ru&#x0364;ck&#x017F;icht der &#x017F;innlichen Empfindungen.</hi></head><lb/>
            <p>&#x201C;An einen andern Orte &#x017F;agt <hi rendition="#fr">Herder</hi>: Die ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
liche Bildung un&#x017F;rer Ideen von Kindheit auf erwei&#x017F;et<lb/>
(die Immaterialita&#x0364;t der Seele) und der lang&#x017F;ame<lb/>
Gang, auf welchem die Seele nicht nur &#x017F;pa&#x0364;t ihrer &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bewu&#x017F;t wird, &#x017F;ondern auch mit Mu&#x0364;he ihre Sinnen<lb/>
brauchen lernt. Mehr als ein P&#x017F;ycholog hat die<lb/>
Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;cke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe,<lb/>
Ge&#x017F;talt, Gro&#x0364;ße, Entfernung Begriffe erha&#x0364;lt und durch<lb/>
die es &#x017F;ehen lernt. Der ko&#x0364;rperliche Sinn lernt nichts:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">denn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0143] dem Menſchen kaum aus dem Wege gehen.„ Wenn dieſes auch nicht alles nach dem Buchſtaben wahr iſt, ſo bleibt es doch die Hauptſache. Warum uͤberſieht der Gelehrte in einem Augenblicke die Geſtalt, die Verbindung, den Sinn von einer Menge Buchſtaben, und zeichnet die ſo verſchiedenen Figuren mit bewun- derungswuͤrdiger Fertigkeit aufs Papier, waͤhrend dem doch ſeine Aufmerkſamkeit nur auf den Gegenſtand und den Ausdruck gerichtet iſt? Und warum iſt dieſes ei- nem Lapplaͤnder ganz unbegreiflich? — Weil das Be- duͤrfniß des Lernens ſo wenig die thieriſche Natur, als die angebohrnen Kunſtfertigkeiten die menſchliche Natur ausſchließen, und weil Uebung, Gewohnheit und Erfahrung auch auf das Wiſſen und die Lebens- art der Thiere einen Einfluß haben, der freilich beym Menſchen deſto allgemeiner ſeyn mußte, je uneinge- ſchraͤnkter ſein Faͤhigkeiten und ſeine Lebensweiſe ſeyn ſollten. §. 31. In Ruͤckſicht der ſinnlichen Empfindungen. “An einen andern Orte ſagt Herder: Die kuͤnſt- liche Bildung unſrer Ideen von Kindheit auf erweiſet (die Immaterialitaͤt der Seele) und der langſame Gang, auf welchem die Seele nicht nur ſpaͤt ihrer ſelbſt bewuſt wird, ſondern auch mit Muͤhe ihre Sinnen brauchen lernt. Mehr als ein Pſycholog hat die Kunſtſtuͤcke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe, Geſtalt, Groͤße, Entfernung Begriffe erhaͤlt und durch die es ſehen lernt. Der koͤrperliche Sinn lernt nichts: denn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/143
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/143>, abgerufen am 22.11.2024.