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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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Vorrede.

Dieser Mann muste mit durchdringendem
Scharfsinne und mit gleich grosser Empfindungs-
und Einbildungskraft ausgerüstet seyn, um von
den kleinsten Dingen eben so sehr gerührt zu
werden, als von den grossen. Sein Geistes-
blick muste schnell seyn, um keine Gelegenheit
entschlüpfen zu lassen; seine Beurtheilungskraft
streng, um von keinem Schein betrogen zu wer-
den; er muste Geschmack an der Natur haben,
das ist, er muste zum Beobachter nicht durch
Kunst gebildet, sondern von der Natur geboh-
ren seyn. -- Aber wie wenige gelangen zu dem,
zu was sie gebohren sind!

Durchblättern wir die Schriften der un-
verdrossensten Beobachter, so schwindelt uns
zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach-
tungen; und dennoch sind solche, die ein voll-
kommener, ungekünstelter und unverfälschter
Abdruck der Natur wären, so selten! Wer
kann jede Thatsache als Ursache, als Wirkung,
als Folge, von allen Seiten, in allen Verhält-
nissen so untersuchen, daß nicht zuweilen die

behut-
Vorrede.

Dieſer Mann muſte mit durchdringendem
Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs-
und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von
den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu
werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes-
blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit
entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft
ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer-
den; er muſte Geſchmack an der Natur haben,
das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch
Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh-
ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem,
zu was ſie gebohren ſind!

Durchblaͤttern wir die Schriften der un-
verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns
zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach-
tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll-
kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter
Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer
kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung,
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niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die

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[V/0010] Vorrede. Dieſer Mann muſte mit durchdringendem Scharfſinne und mit gleich groſſer Empfindungs- und Einbildungskraft ausgeruͤſtet ſeyn, um von den kleinſten Dingen eben ſo ſehr geruͤhrt zu werden, als von den groſſen. Sein Geiſtes- blick muſte ſchnell ſeyn, um keine Gelegenheit entſchluͤpfen zu laſſen; ſeine Beurtheilungskraft ſtreng, um von keinem Schein betrogen zu wer- den; er muſte Geſchmack an der Natur haben, das iſt, er muſte zum Beobachter nicht durch Kunſt gebildet, ſondern von der Natur geboh- ren ſeyn. — Aber wie wenige gelangen zu dem, zu was ſie gebohren ſind! Durchblaͤttern wir die Schriften der un- verdroſſenſten Beobachter, ſo ſchwindelt uns zwar vor der ungeheuren Menge von Beobach- tungen; und dennoch ſind ſolche, die ein voll- kommener, ungekuͤnſtelter und unverfaͤlſchter Abdruck der Natur waͤren, ſo ſelten! Wer kann jede Thatſache als Urſache, als Wirkung, als Folge, von allen Seiten, in allen Verhaͤlt- niſſen ſo unterſuchen, daß nicht zuweilen die behut-

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/10>, abgerufen am 25.04.2024.