Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.scheiden und anspruchslos; aber sie war das einzige Kind eines reichen Ehepaars, der letzte Sproß eines alten gräflichen Hauses, dessen Güter auch alle ihrem Manne einst zufallen sollten, und verwöhnt und verzogen in einer Weise, daß sie im Stande war, ihre Umgebung geradezu zu mißhandeln, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Von Kindheit an kränklich, hatte sie nie einen Tadel vernommen, und auch noch jetzt, wenn ihre Mutter sie besuchte, behandelte diese sie wie ein krankes Kind. Man hatte bei der Gräfin systematisch den crassesten Egoismus ausgebildet, der aber eigentlich nicht in ihrem Charakter wurzelte, denn sobald sie Jemand aufmerksam gemacht haben würde, daß es Opfer seien, was sie täglich und stündlich von den Andern verlangte, so würde sie erschrocken darauf verzichtet haben; aber weil von jeher ihre ganze Umgebung -- sie hatte nur das Schloß ihrers Vaters verlassen, um das Schloß ihres Gemahls zu beziehen -- sie für die Hauptperson gehalten und als solche behandelt, hatte sie sich angewöhnt, eine solche Behandlung, als sich von selbst verstehend, zu verlangen. Seitdem sie Mutter geworden, war, umgekehrt wie bei andern Frauen, die Sache noch viel schlimmer geworden; denn für ihr Kind, mit dem sie als die zärtlichste Mutter sich übrigens ganz identificirte, verlangte sie naiv von Jedermann auch das größte Opfer, weil sie selbst sich bereit fühlte, es zu bringen, ohne doch je in dem Falle zu sein, es zu thun; denn um ihrer scheiden und anspruchslos; aber sie war das einzige Kind eines reichen Ehepaars, der letzte Sproß eines alten gräflichen Hauses, dessen Güter auch alle ihrem Manne einst zufallen sollten, und verwöhnt und verzogen in einer Weise, daß sie im Stande war, ihre Umgebung geradezu zu mißhandeln, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Von Kindheit an kränklich, hatte sie nie einen Tadel vernommen, und auch noch jetzt, wenn ihre Mutter sie besuchte, behandelte diese sie wie ein krankes Kind. Man hatte bei der Gräfin systematisch den crassesten Egoismus ausgebildet, der aber eigentlich nicht in ihrem Charakter wurzelte, denn sobald sie Jemand aufmerksam gemacht haben würde, daß es Opfer seien, was sie täglich und stündlich von den Andern verlangte, so würde sie erschrocken darauf verzichtet haben; aber weil von jeher ihre ganze Umgebung — sie hatte nur das Schloß ihrers Vaters verlassen, um das Schloß ihres Gemahls zu beziehen — sie für die Hauptperson gehalten und als solche behandelt, hatte sie sich angewöhnt, eine solche Behandlung, als sich von selbst verstehend, zu verlangen. Seitdem sie Mutter geworden, war, umgekehrt wie bei andern Frauen, die Sache noch viel schlimmer geworden; denn für ihr Kind, mit dem sie als die zärtlichste Mutter sich übrigens ganz identificirte, verlangte sie naiv von Jedermann auch das größte Opfer, weil sie selbst sich bereit fühlte, es zu bringen, ohne doch je in dem Falle zu sein, es zu thun; denn um ihrer <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0026"/> scheiden und anspruchslos; aber sie war das einzige Kind eines reichen Ehepaars, der letzte Sproß eines alten gräflichen Hauses, dessen Güter auch alle ihrem Manne einst zufallen sollten, und verwöhnt und verzogen in einer Weise, daß sie im Stande war, ihre Umgebung geradezu zu mißhandeln, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Von Kindheit an kränklich, hatte sie nie einen Tadel vernommen, und auch noch jetzt, wenn ihre Mutter sie besuchte, behandelte diese sie wie ein krankes Kind. Man hatte bei der Gräfin systematisch den crassesten Egoismus ausgebildet, der aber eigentlich nicht in ihrem Charakter wurzelte, denn sobald sie Jemand aufmerksam gemacht haben würde, daß es Opfer seien, was sie täglich und stündlich von den Andern verlangte, so würde sie erschrocken darauf verzichtet haben; aber weil von jeher ihre ganze Umgebung — sie hatte nur das Schloß ihrers Vaters verlassen, um das Schloß ihres Gemahls zu beziehen — sie für die Hauptperson gehalten und als solche behandelt, hatte sie sich angewöhnt, eine solche Behandlung, als sich von selbst verstehend, zu verlangen.</p><lb/> <p>Seitdem sie Mutter geworden, war, umgekehrt wie bei andern Frauen, die Sache noch viel schlimmer geworden; denn für ihr Kind, mit dem sie als die zärtlichste Mutter sich übrigens ganz identificirte, verlangte sie naiv von Jedermann auch das größte Opfer, weil sie selbst sich bereit fühlte, es zu bringen, ohne doch je in dem Falle zu sein, es zu thun; denn um ihrer<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
scheiden und anspruchslos; aber sie war das einzige Kind eines reichen Ehepaars, der letzte Sproß eines alten gräflichen Hauses, dessen Güter auch alle ihrem Manne einst zufallen sollten, und verwöhnt und verzogen in einer Weise, daß sie im Stande war, ihre Umgebung geradezu zu mißhandeln, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Von Kindheit an kränklich, hatte sie nie einen Tadel vernommen, und auch noch jetzt, wenn ihre Mutter sie besuchte, behandelte diese sie wie ein krankes Kind. Man hatte bei der Gräfin systematisch den crassesten Egoismus ausgebildet, der aber eigentlich nicht in ihrem Charakter wurzelte, denn sobald sie Jemand aufmerksam gemacht haben würde, daß es Opfer seien, was sie täglich und stündlich von den Andern verlangte, so würde sie erschrocken darauf verzichtet haben; aber weil von jeher ihre ganze Umgebung — sie hatte nur das Schloß ihrers Vaters verlassen, um das Schloß ihres Gemahls zu beziehen — sie für die Hauptperson gehalten und als solche behandelt, hatte sie sich angewöhnt, eine solche Behandlung, als sich von selbst verstehend, zu verlangen.
Seitdem sie Mutter geworden, war, umgekehrt wie bei andern Frauen, die Sache noch viel schlimmer geworden; denn für ihr Kind, mit dem sie als die zärtlichste Mutter sich übrigens ganz identificirte, verlangte sie naiv von Jedermann auch das größte Opfer, weil sie selbst sich bereit fühlte, es zu bringen, ohne doch je in dem Falle zu sein, es zu thun; denn um ihrer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/26 |
Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/26>, abgerufen am 27.07.2024. |