Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.suchte. Den Armen aber hatte er sein eigenes Saatkorn, seine eigenen Pflanzkartoffeln beinahe alle gegeben, denn es war Frühling und das schönste Wetter der Welt, Alles wuchs und gedieh, aber reif war noch kein Körnchen, wovon sich nur ein Vöglein hätte sättigen können. Schon mehre Male hatte die Gräfin Theresen sagen lassen, sie möge doch einmal mit ihrem Kinde auf das Schloß kommen, damit sie es mit dem jungen Grafen vergleiche, ihr sogar den Wagen angeboten, der sie abholen sollte, aber Bernhard hatte das nicht gelitten und immer geantwortet: Meine Frau kann nicht abkommen. Zu Theresen sagte er: Wenn sie dein Kind sehen will, kann sie herkommen, sie hat nichts zu thun und fährt ohnedem mit dem Jungen alle Tage spazieren. -- Das that denn auch die Gräfin eines Tages, denn der mütterliche Stolz ging bei ihr noch über den gräflichen. Als die Kalesche mit den vier Mecklenburgern bespannt, wie heutzutage noch immer der westfälische Adel über Land fährt, auf den Pachthof rollte, eilte Therese an den Schlag; kaum aber hatte die Gräfin, die sie heute zum ersten Male sah, sie erblickt, so rief sie auch schon mit strahlenden Augen, indem sie auf ihr neben ihr sitzendes Kind zeigte, das eine Wärterin in den Armen hielt: Denken Sie. Frau Artmann, er läuft schon! suchte. Den Armen aber hatte er sein eigenes Saatkorn, seine eigenen Pflanzkartoffeln beinahe alle gegeben, denn es war Frühling und das schönste Wetter der Welt, Alles wuchs und gedieh, aber reif war noch kein Körnchen, wovon sich nur ein Vöglein hätte sättigen können. Schon mehre Male hatte die Gräfin Theresen sagen lassen, sie möge doch einmal mit ihrem Kinde auf das Schloß kommen, damit sie es mit dem jungen Grafen vergleiche, ihr sogar den Wagen angeboten, der sie abholen sollte, aber Bernhard hatte das nicht gelitten und immer geantwortet: Meine Frau kann nicht abkommen. Zu Theresen sagte er: Wenn sie dein Kind sehen will, kann sie herkommen, sie hat nichts zu thun und fährt ohnedem mit dem Jungen alle Tage spazieren. — Das that denn auch die Gräfin eines Tages, denn der mütterliche Stolz ging bei ihr noch über den gräflichen. Als die Kalesche mit den vier Mecklenburgern bespannt, wie heutzutage noch immer der westfälische Adel über Land fährt, auf den Pachthof rollte, eilte Therese an den Schlag; kaum aber hatte die Gräfin, die sie heute zum ersten Male sah, sie erblickt, so rief sie auch schon mit strahlenden Augen, indem sie auf ihr neben ihr sitzendes Kind zeigte, das eine Wärterin in den Armen hielt: Denken Sie. Frau Artmann, er läuft schon! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0020"/> suchte. Den Armen aber hatte er sein eigenes Saatkorn, seine eigenen Pflanzkartoffeln beinahe alle gegeben, denn es war Frühling und das schönste Wetter der Welt, Alles wuchs und gedieh, aber reif war noch kein Körnchen, wovon sich nur ein Vöglein hätte sättigen können.</p><lb/> <p>Schon mehre Male hatte die Gräfin Theresen sagen lassen, sie möge doch einmal mit ihrem Kinde auf das Schloß kommen, damit sie es mit dem jungen Grafen vergleiche, ihr sogar den Wagen angeboten, der sie abholen sollte, aber Bernhard hatte das nicht gelitten und immer geantwortet: Meine Frau kann nicht abkommen.</p><lb/> <p>Zu Theresen sagte er: Wenn sie dein Kind sehen will, kann sie herkommen, sie hat nichts zu thun und fährt ohnedem mit dem Jungen alle Tage spazieren. — Das that denn auch die Gräfin eines Tages, denn der mütterliche Stolz ging bei ihr noch über den gräflichen.</p><lb/> <p>Als die Kalesche mit den vier Mecklenburgern bespannt, wie heutzutage noch immer der westfälische Adel über Land fährt, auf den Pachthof rollte, eilte Therese an den Schlag; kaum aber hatte die Gräfin, die sie heute zum ersten Male sah, sie erblickt, so rief sie auch schon mit strahlenden Augen, indem sie auf ihr neben ihr sitzendes Kind zeigte, das eine Wärterin in den Armen hielt:</p><lb/> <p>Denken Sie. Frau Artmann, er läuft schon!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
suchte. Den Armen aber hatte er sein eigenes Saatkorn, seine eigenen Pflanzkartoffeln beinahe alle gegeben, denn es war Frühling und das schönste Wetter der Welt, Alles wuchs und gedieh, aber reif war noch kein Körnchen, wovon sich nur ein Vöglein hätte sättigen können.
Schon mehre Male hatte die Gräfin Theresen sagen lassen, sie möge doch einmal mit ihrem Kinde auf das Schloß kommen, damit sie es mit dem jungen Grafen vergleiche, ihr sogar den Wagen angeboten, der sie abholen sollte, aber Bernhard hatte das nicht gelitten und immer geantwortet: Meine Frau kann nicht abkommen.
Zu Theresen sagte er: Wenn sie dein Kind sehen will, kann sie herkommen, sie hat nichts zu thun und fährt ohnedem mit dem Jungen alle Tage spazieren. — Das that denn auch die Gräfin eines Tages, denn der mütterliche Stolz ging bei ihr noch über den gräflichen.
Als die Kalesche mit den vier Mecklenburgern bespannt, wie heutzutage noch immer der westfälische Adel über Land fährt, auf den Pachthof rollte, eilte Therese an den Schlag; kaum aber hatte die Gräfin, die sie heute zum ersten Male sah, sie erblickt, so rief sie auch schon mit strahlenden Augen, indem sie auf ihr neben ihr sitzendes Kind zeigte, das eine Wärterin in den Armen hielt:
Denken Sie. Frau Artmann, er läuft schon!
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/20>, abgerufen am 16.07.2024. |