Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sundes Geschöpf, und natürlich in den Augen aller Bewohner des Schlosses ein vollständiges Wunder! Nach der Taufe empfahl sich Bernhard dem Grafen, der ihn noch länger zurückhalten wollte, und schützte vor, daß seine Frau noch zu schwach sei, als daß er sie so lange verlassen dürfe. Therese aber war glücklicherweise gar nicht schwach und empfing freudig ihren Mann, der ihr nun viel Schönes erzählen sollte. Bernhard aber sagte nur kurz: Es ist gar Nichts vorgefallen, was der Rede werth wäre, und ging wieder hinaus, um mit den Knechten zu rechnen. Therese aber lehnte ihr schönes freundliches Gesicht in die Hand und sagte nach einer Weile lächelnd zu ihrer Schwägerin, einem kränklichen Mädchen, die am Bette saß und strickte: Wenn wir als Erbfehler die Eitelkeit besitzen, so besitzen die Männer dafür den Hochmuth; was ist nun schlimmer? 2. Er kann schon laufen. Ein Jahr war verflossen. Das Glück auf dem Pachthofe war immer in ungetrübter Blüthe geblieben. Therese war noch dieselbe schöne, blühende, glückliche Mutter und Frau, Bernhard der fleißige und erfolgreiche Oekonom; daß seine kränkliche Schwester gestorben, war kein Unglück zu nennen, denn das Mädchen hatte nie Freude am Leben gehabt. Die alte Tante sundes Geschöpf, und natürlich in den Augen aller Bewohner des Schlosses ein vollständiges Wunder! Nach der Taufe empfahl sich Bernhard dem Grafen, der ihn noch länger zurückhalten wollte, und schützte vor, daß seine Frau noch zu schwach sei, als daß er sie so lange verlassen dürfe. Therese aber war glücklicherweise gar nicht schwach und empfing freudig ihren Mann, der ihr nun viel Schönes erzählen sollte. Bernhard aber sagte nur kurz: Es ist gar Nichts vorgefallen, was der Rede werth wäre, und ging wieder hinaus, um mit den Knechten zu rechnen. Therese aber lehnte ihr schönes freundliches Gesicht in die Hand und sagte nach einer Weile lächelnd zu ihrer Schwägerin, einem kränklichen Mädchen, die am Bette saß und strickte: Wenn wir als Erbfehler die Eitelkeit besitzen, so besitzen die Männer dafür den Hochmuth; was ist nun schlimmer? 2. Er kann schon laufen. Ein Jahr war verflossen. Das Glück auf dem Pachthofe war immer in ungetrübter Blüthe geblieben. Therese war noch dieselbe schöne, blühende, glückliche Mutter und Frau, Bernhard der fleißige und erfolgreiche Oekonom; daß seine kränkliche Schwester gestorben, war kein Unglück zu nennen, denn das Mädchen hatte nie Freude am Leben gehabt. Die alte Tante <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0018"/> sundes Geschöpf, und natürlich in den Augen aller Bewohner des Schlosses ein vollständiges Wunder!</p><lb/> <p>Nach der Taufe empfahl sich Bernhard dem Grafen, der ihn noch länger zurückhalten wollte, und schützte vor, daß seine Frau noch zu schwach sei, als daß er sie so lange verlassen dürfe.</p><lb/> <p>Therese aber war glücklicherweise gar nicht schwach und empfing freudig ihren Mann, der ihr nun viel Schönes erzählen sollte. Bernhard aber sagte nur kurz: Es ist gar Nichts vorgefallen, was der Rede werth wäre, und ging wieder hinaus, um mit den Knechten zu rechnen. Therese aber lehnte ihr schönes freundliches Gesicht in die Hand und sagte nach einer Weile lächelnd zu ihrer Schwägerin, einem kränklichen Mädchen, die am Bette saß und strickte: Wenn wir als Erbfehler die Eitelkeit besitzen, so besitzen die Männer dafür den Hochmuth; was ist nun schlimmer?</p><lb/> </div> <div type="chapter" n="2"> <head>2. Er kann schon laufen.</head> <p>Ein Jahr war verflossen. Das Glück auf dem Pachthofe war immer in ungetrübter Blüthe geblieben. Therese war noch dieselbe schöne, blühende, glückliche Mutter und Frau, Bernhard der fleißige und erfolgreiche Oekonom; daß seine kränkliche Schwester gestorben, war kein Unglück zu nennen, denn das Mädchen hatte nie Freude am Leben gehabt. Die alte Tante<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
sundes Geschöpf, und natürlich in den Augen aller Bewohner des Schlosses ein vollständiges Wunder!
Nach der Taufe empfahl sich Bernhard dem Grafen, der ihn noch länger zurückhalten wollte, und schützte vor, daß seine Frau noch zu schwach sei, als daß er sie so lange verlassen dürfe.
Therese aber war glücklicherweise gar nicht schwach und empfing freudig ihren Mann, der ihr nun viel Schönes erzählen sollte. Bernhard aber sagte nur kurz: Es ist gar Nichts vorgefallen, was der Rede werth wäre, und ging wieder hinaus, um mit den Knechten zu rechnen. Therese aber lehnte ihr schönes freundliches Gesicht in die Hand und sagte nach einer Weile lächelnd zu ihrer Schwägerin, einem kränklichen Mädchen, die am Bette saß und strickte: Wenn wir als Erbfehler die Eitelkeit besitzen, so besitzen die Männer dafür den Hochmuth; was ist nun schlimmer?
2. Er kann schon laufen. Ein Jahr war verflossen. Das Glück auf dem Pachthofe war immer in ungetrübter Blüthe geblieben. Therese war noch dieselbe schöne, blühende, glückliche Mutter und Frau, Bernhard der fleißige und erfolgreiche Oekonom; daß seine kränkliche Schwester gestorben, war kein Unglück zu nennen, denn das Mädchen hatte nie Freude am Leben gehabt. Die alte Tante
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/18>, abgerufen am 26.07.2024. |