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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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reservirt gegen mich war als in ihren besten Stunden des gewöhnlichen Lebens, d. h. mir als Somnambule Mittheilungen über ihre Familie u. dgl. machte, während sie mich sonst behandelte als wäre ich ein Fremder, wenn ich ferner davon absehe, dass sie die volle Suggerirbarkeit der Somnambulen zeigte, muss ich eigentlich sagen, sie war als Somnambule in einem vollkommen normalen Zustande. Es war interessant zu beobachten, dass dieser Somnambulismus andererseits keinen Zug des Uebernormalen zeigte, dass er mit allen psychischen Mängeln behaftet war, die wir dem normalen Bewusstseinszustande zutrauen. Das Verhalten des somnambulen Gedächtnisses mögen folgende Proben erläutern. Einmal drückte sie mir im Gespräch ihr Entzücken über eine schöne Topfpflanze aus, welche die Vorhalle des Sanatoriums zierte. "Aber wie heisst sie nur, Herr Doctor? Wissen Sie nicht? Ich habe den deutschen und den lateinischen Namen gewusst und beide vergessen." Sie war eine treffliche Kennerin der Pflanzen, während ich bei dieser Gelegenheit meine botanische Unbildung eingestand. Wenige Minuten später frage ich sie in der Hypnose: Wissen Sie jetzt den Namen der Pflanze im Stiegenhaus? Die Antwort lautet ohne jedes Besinnen: Mit dem deutschen Namen heisst sie Türkenlilie, den lateinischen habe ich wirklich vergessen. Ein andermal erzählt sie mir in gutem Wohlbefinden von einem Besuch in den Katakomben von Rom und kann sich auf zwei Termine der Beschreibung nicht besinnen, zu denen auch ich ihr nicht verhelfen kann. Unmittelbar darauf erkundige ich mich in der Hypnose, welche Worte sie meinte. Sie weiss es auch in der Hypnose nicht. Ich sage darauf: Denken Sie nicht weiter nach, morgen zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittags im Garten, näher an 6 Uhr, werden sie Ihnen plötzlich einfallen.

Am nächsten Abend platzt sie während einer den Katakomben ganz entfremdeten Unterhaltung plötzlich heraus: Krypte, Herr Doctor, und Columbarium. - Ah, das sind ja die Worte, auf die Sie gestern nicht kommen konnten. Wann sind sie Ihnen denn eingefallen? - Heute Nachmittag im Garten, kurz ehe ich hinaufgegangen bin. - Ich merkte, dass sie mir auf diese Weise zeigen wollte, sie habe genau die angegebene Zeit eingehalten, denn sie war gewohnt, den Garten gegen 6 Uhr zu verlassen. So verfügte sie also auch im Somnambulismus nicht über den ganzen Umfang ihres Wissens, es gab auch für ihn noch ein actuelles und ein potentielles Bewusstsein. Oft genug kam es auch vor, dass sie im Somnambulismus auf meine

reservirt gegen mich war als in ihren besten Stunden des gewöhnlichen Lebens, d. h. mir als Somnambule Mittheilungen über ihre Familie u. dgl. machte, während sie mich sonst behandelte als wäre ich ein Fremder, wenn ich ferner davon absehe, dass sie die volle Suggerirbarkeit der Somnambulen zeigte, muss ich eigentlich sagen, sie war als Somnambule in einem vollkommen normalen Zustande. Es war interessant zu beobachten, dass dieser Somnambulismus andererseits keinen Zug des Uebernormalen zeigte, dass er mit allen psychischen Mängeln behaftet war, die wir dem normalen Bewusstseinszustande zutrauen. Das Verhalten des somnambulen Gedächtnisses mögen folgende Proben erläutern. Einmal drückte sie mir im Gespräch ihr Entzücken über eine schöne Topfpflanze aus, welche die Vorhalle des Sanatoriums zierte. „Aber wie heisst sie nur, Herr Doctor? Wissen Sie nicht? Ich habe den deutschen und den lateinischen Namen gewusst und beide vergessen.“ Sie war eine treffliche Kennerin der Pflanzen, während ich bei dieser Gelegenheit meine botanische Unbildung eingestand. Wenige Minuten später frage ich sie in der Hypnose: Wissen Sie jetzt den Namen der Pflanze im Stiegenhaus? Die Antwort lautet ohne jedes Besinnen: Mit dem deutschen Namen heisst sie Türkenlilie, den lateinischen habe ich wirklich vergessen. Ein andermal erzählt sie mir in gutem Wohlbefinden von einem Besuch in den Katakomben von Rom und kann sich auf zwei Termine der Beschreibung nicht besinnen, zu denen auch ich ihr nicht verhelfen kann. Unmittelbar darauf erkundige ich mich in der Hypnose, welche Worte sie meinte. Sie weiss es auch in der Hypnose nicht. Ich sage darauf: Denken Sie nicht weiter nach, morgen zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittags im Garten, näher an 6 Uhr, werden sie Ihnen plötzlich einfallen.

Am nächsten Abend platzt sie während einer den Katakomben ganz entfremdeten Unterhaltung plötzlich heraus: Krypte, Herr Doctor, und Columbarium. – Ah, das sind ja die Worte, auf die Sie gestern nicht kommen konnten. Wann sind sie Ihnen denn eingefallen? – Heute Nachmittag im Garten, kurz ehe ich hinaufgegangen bin. – Ich merkte, dass sie mir auf diese Weise zeigen wollte, sie habe genau die angegebene Zeit eingehalten, denn sie war gewohnt, den Garten gegen 6 Uhr zu verlassen. So verfügte sie also auch im Somnambulismus nicht über den ganzen Umfang ihres Wissens, es gab auch für ihn noch ein actuelles und ein potentielles Bewusstsein. Oft genug kam es auch vor, dass sie im Somnambulismus auf meine

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[83/0089] reservirt gegen mich war als in ihren besten Stunden des gewöhnlichen Lebens, d. h. mir als Somnambule Mittheilungen über ihre Familie u. dgl. machte, während sie mich sonst behandelte als wäre ich ein Fremder, wenn ich ferner davon absehe, dass sie die volle Suggerirbarkeit der Somnambulen zeigte, muss ich eigentlich sagen, sie war als Somnambule in einem vollkommen normalen Zustande. Es war interessant zu beobachten, dass dieser Somnambulismus andererseits keinen Zug des Uebernormalen zeigte, dass er mit allen psychischen Mängeln behaftet war, die wir dem normalen Bewusstseinszustande zutrauen. Das Verhalten des somnambulen Gedächtnisses mögen folgende Proben erläutern. Einmal drückte sie mir im Gespräch ihr Entzücken über eine schöne Topfpflanze aus, welche die Vorhalle des Sanatoriums zierte. „Aber wie heisst sie nur, Herr Doctor? Wissen Sie nicht? Ich habe den deutschen und den lateinischen Namen gewusst und beide vergessen.“ Sie war eine treffliche Kennerin der Pflanzen, während ich bei dieser Gelegenheit meine botanische Unbildung eingestand. Wenige Minuten später frage ich sie in der Hypnose: Wissen Sie jetzt den Namen der Pflanze im Stiegenhaus? Die Antwort lautet ohne jedes Besinnen: Mit dem deutschen Namen heisst sie Türkenlilie, den lateinischen habe ich wirklich vergessen. Ein andermal erzählt sie mir in gutem Wohlbefinden von einem Besuch in den Katakomben von Rom und kann sich auf zwei Termine der Beschreibung nicht besinnen, zu denen auch ich ihr nicht verhelfen kann. Unmittelbar darauf erkundige ich mich in der Hypnose, welche Worte sie meinte. Sie weiss es auch in der Hypnose nicht. Ich sage darauf: Denken Sie nicht weiter nach, morgen zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittags im Garten, näher an 6 Uhr, werden sie Ihnen plötzlich einfallen. Am nächsten Abend platzt sie während einer den Katakomben ganz entfremdeten Unterhaltung plötzlich heraus: Krypte, Herr Doctor, und Columbarium. – Ah, das sind ja die Worte, auf die Sie gestern nicht kommen konnten. Wann sind sie Ihnen denn eingefallen? – Heute Nachmittag im Garten, kurz ehe ich hinaufgegangen bin. – Ich merkte, dass sie mir auf diese Weise zeigen wollte, sie habe genau die angegebene Zeit eingehalten, denn sie war gewohnt, den Garten gegen 6 Uhr zu verlassen. So verfügte sie also auch im Somnambulismus nicht über den ganzen Umfang ihres Wissens, es gab auch für ihn noch ein actuelles und ein potentielles Bewusstsein. Oft genug kam es auch vor, dass sie im Somnambulismus auf meine

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/89>, abgerufen am 28.04.2024.