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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Sehnen und Fascien, die dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein anderer Theil der Schmerzen war höchst wahrscheinlich Schmerzerinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz eingenommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aussagen über die Schmerzen bei Frau v. N. .. auf anderswo gemachte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser Arbeit mittheilen werde; an der Kranken selbst war gerade über diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen.

Ein Theil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau v. N .. zeigte, war einfach Ausdruck von Gemüthsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel und dgl. Allerdings ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemüthsbewegung als der sonstigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Race entsprach; sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Theil ihrer Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in directem Zusammenhang mit ihren Schmerzen; sie spielte ruhelos mit den Fingern (1888), oder rieb die Hände an einander (1889), um nicht schreien zu müssen, und diese Motivirung erinnert lebhaft an eines der Darwin'schen Principien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Princip der "Ableitung der Erregung", durch welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Ersatz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige motorische Innervation üben wir übrigens Alle. Wer sich beim Zahnarzt vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt wenigstens mit den Füssen.

Eine complicirtere Weise der Conversion lassen die tickähnlichen Bewegungen bei Frau v. N .. erkennen, das Zungenschnalzen und Stottern, das Rufen ihres Namens "Emmy" im Anfall von Verworrenheit, die zusammengesetzte Schutzformel - "Seien sie still - Reden sie nichts - Rühren sie mich nicht an" (1888). Von diesen motorischen Aeusserungen lassen Stottern und Schnalzen eine Erklärung nach einem Mechanismus zu, den ich in einer kleinen Mittheilung in der Zeitschrift für Hypnotismus Band I, 1893 als "Objectivirung der Contrastvorstellung" bezeichnet habe. Der Vorgang hierbei wäre, an

Sehnen und Fascien, die dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein anderer Theil der Schmerzen war höchst wahrscheinlich Schmerzerinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz eingenommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aussagen über die Schmerzen bei Frau v. N. .. auf anderswo gemachte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser Arbeit mittheilen werde; an der Kranken selbst war gerade über diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen.

Ein Theil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau v. N .. zeigte, war einfach Ausdruck von Gemüthsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel und dgl. Allerdings ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemüthsbewegung als der sonstigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Race entsprach; sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Theil ihrer Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in directem Zusammenhang mit ihren Schmerzen; sie spielte ruhelos mit den Fingern (1888), oder rieb die Hände an einander (1889), um nicht schreien zu müssen, und diese Motivirung erinnert lebhaft an eines der Darwin’schen Principien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Princip der „Ableitung der Erregung“, durch welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Ersatz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige motorische Innervation üben wir übrigens Alle. Wer sich beim Zahnarzt vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt wenigstens mit den Füssen.

Eine complicirtere Weise der Conversion lassen die tickähnlichen Bewegungen bei Frau v. N .. erkennen, das Zungenschnalzen und Stottern, das Rufen ihres Namens „Emmy“ im Anfall von Verworrenheit, die zusammengesetzte Schutzformel – „Seien sie still – Reden sie nichts – Rühren sie mich nicht an“ (1888). Von diesen motorischen Aeusserungen lassen Stottern und Schnalzen eine Erklärung nach einem Mechanismus zu, den ich in einer kleinen Mittheilung in der Zeitschrift für Hypnotismus Band I, 1893 als „Objectivirung der Contrastvorstellung“ bezeichnet habe. Der Vorgang hierbei wäre, an

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Sehnen und Fascien, die dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein anderer Theil der Schmerzen war höchst wahrscheinlich Schmerzerinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz eingenommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aussagen über die Schmerzen bei Frau v. N. .. auf anderswo gemachte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser Arbeit mittheilen werde; an der Kranken selbst war gerade über diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen.</p>
            <p>Ein Theil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau v. N .. zeigte, war einfach Ausdruck von Gemüthsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel und dgl. Allerdings ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemüthsbewegung als der sonstigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Race entsprach; sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Theil ihrer Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in directem Zusammenhang mit ihren Schmerzen; sie spielte ruhelos mit den Fingern (1888), oder rieb die Hände an einander (1889), um nicht schreien zu müssen, und diese Motivirung erinnert lebhaft an eines der <hi rendition="#g">Darwin</hi>&#x2019;schen Principien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Princip der &#x201E;Ableitung der Erregung&#x201C;, durch welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Ersatz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige motorische Innervation üben wir übrigens Alle. Wer sich beim Zahnarzt vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt wenigstens mit den Füssen.</p>
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[77/0083] Sehnen und Fascien, die dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein anderer Theil der Schmerzen war höchst wahrscheinlich Schmerzerinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz eingenommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aussagen über die Schmerzen bei Frau v. N. .. auf anderswo gemachte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser Arbeit mittheilen werde; an der Kranken selbst war gerade über diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen. Ein Theil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau v. N .. zeigte, war einfach Ausdruck von Gemüthsbewegung und leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck des Grausens, das Mienenspiel und dgl. Allerdings ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemüthsbewegung als der sonstigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Race entsprach; sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen, fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Theil ihrer Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in directem Zusammenhang mit ihren Schmerzen; sie spielte ruhelos mit den Fingern (1888), oder rieb die Hände an einander (1889), um nicht schreien zu müssen, und diese Motivirung erinnert lebhaft an eines der Darwin’schen Principien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Princip der „Ableitung der Erregung“, durch welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Ersatz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige motorische Innervation üben wir übrigens Alle. Wer sich beim Zahnarzt vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt wenigstens mit den Füssen. Eine complicirtere Weise der Conversion lassen die tickähnlichen Bewegungen bei Frau v. N .. erkennen, das Zungenschnalzen und Stottern, das Rufen ihres Namens „Emmy“ im Anfall von Verworrenheit, die zusammengesetzte Schutzformel – „Seien sie still – Reden sie nichts – Rühren sie mich nicht an“ (1888). Von diesen motorischen Aeusserungen lassen Stottern und Schnalzen eine Erklärung nach einem Mechanismus zu, den ich in einer kleinen Mittheilung in der Zeitschrift für Hypnotismus Band I, 1893 als „Objectivirung der Contrastvorstellung“ bezeichnet habe. Der Vorgang hierbei wäre, an

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/83>, abgerufen am 27.04.2024.