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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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ein Glas Mineralwasser und eine bescheidene Mahlzeit verderben, und wenn sie bejahe, werde ich sie bitten abzureisen. Die kleine Scene stand in recht scharfem Contrast zu unseren, sonst sehr freundschaftlichen Beziehungen.

Ich traf sie 24 Stunden später demüthig und mürbe. Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: "Ich glaube, dass sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen." Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: "Warum können Sie nicht mehr essen?"

Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der Angabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der Erinnerung: "Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, dass ich aus Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war dann immer sehr streng, und ich musste bei schwerer Strafe 2 Stunden später das stehen gelassene Fleisch auf demselben Teller nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so starr (Ekel),... und ich sehe die Gabel noch vor mir, ... die eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tisch setze, sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und dem Fett; und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder zusammenlebte, der Officier war und der die garstige Krankheit hatte; - ich wusste, dass es ansteckend ist, und hatte so eine grässliche Angst, mich in dem Besteck zu irren und seine Gabel und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit ihm zusammengespeist, damit niemand merkt, dass er krank ist; und wie ich bald darauf meinen anderen Bruder gepflegt habe, der so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bett gegessen, und die Spuckschale stand immer auf dem Tisch und war offen (Grausen).... und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt, und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen. Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tisch, wenn ich esse, und da ekelt es mich noch immer." Ich räumte mit diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie 17 Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuss des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den Anderen wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk empfohlen wurde,

ein Glas Mineralwasser und eine bescheidene Mahlzeit verderben, und wenn sie bejahe, werde ich sie bitten abzureisen. Die kleine Scene stand in recht scharfem Contrast zu unseren, sonst sehr freundschaftlichen Beziehungen.

Ich traf sie 24 Stunden später demüthig und mürbe. Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: „Ich glaube, dass sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen.“ Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: „Warum können Sie nicht mehr essen?“

Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der Angabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der Erinnerung: „Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, dass ich aus Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war dann immer sehr streng, und ich musste bei schwerer Strafe 2 Stunden später das stehen gelassene Fleisch auf demselben Teller nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so starr (Ekel),... und ich sehe die Gabel noch vor mir, ... die eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tisch setze, sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und dem Fett; und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder zusammenlebte, der Officier war und der die garstige Krankheit hatte; – ich wusste, dass es ansteckend ist, und hatte so eine grässliche Angst, mich in dem Besteck zu irren und seine Gabel und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit ihm zusammengespeist, damit niemand merkt, dass er krank ist; und wie ich bald darauf meinen anderen Bruder gepflegt habe, der so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bett gegessen, und die Spuckschale stand immer auf dem Tisch und war offen (Grausen).... und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt, und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen. Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tisch, wenn ich esse, und da ekelt es mich noch immer.“ Ich räumte mit diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie 17 Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuss des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den Anderen wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk empfohlen wurde,

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          <p>Ich traf sie 24 Stunden später demüthig und mürbe. Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: &#x201E;Ich glaube, dass sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen.&#x201C; Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: &#x201E;Warum können Sie nicht mehr essen?&#x201C;</p>
          <p>Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der Angabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der Erinnerung: &#x201E;Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, dass ich aus Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war dann immer sehr streng, und ich musste bei schwerer Strafe 2 Stunden später das stehen gelassene Fleisch auf demselben Teller nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so starr (Ekel),... und ich sehe die Gabel noch vor mir, ... die eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tisch setze, sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und dem Fett; und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder zusammenlebte, der Officier war und der die garstige Krankheit hatte; &#x2013; ich wusste, dass es ansteckend ist, und hatte so eine grässliche Angst, mich in dem Besteck zu irren und seine Gabel und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit ihm zusammengespeist, damit niemand merkt, dass er krank ist; und wie ich bald darauf meinen anderen Bruder gepflegt habe, der so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bett gegessen, und die Spuckschale stand immer auf dem Tisch und war offen (Grausen).... und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt, und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen. Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tisch, wenn ich esse, und da ekelt es mich noch immer.&#x201C; Ich räumte mit diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie 17 Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuss des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den Anderen wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk empfohlen wurde,
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[69/0075] ein Glas Mineralwasser und eine bescheidene Mahlzeit verderben, und wenn sie bejahe, werde ich sie bitten abzureisen. Die kleine Scene stand in recht scharfem Contrast zu unseren, sonst sehr freundschaftlichen Beziehungen. Ich traf sie 24 Stunden später demüthig und mürbe. Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: „Ich glaube, dass sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen.“ Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: „Warum können Sie nicht mehr essen?“ Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der Angabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der Erinnerung: „Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, dass ich aus Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war dann immer sehr streng, und ich musste bei schwerer Strafe 2 Stunden später das stehen gelassene Fleisch auf demselben Teller nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so starr (Ekel),... und ich sehe die Gabel noch vor mir, ... die eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tisch setze, sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und dem Fett; und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder zusammenlebte, der Officier war und der die garstige Krankheit hatte; – ich wusste, dass es ansteckend ist, und hatte so eine grässliche Angst, mich in dem Besteck zu irren und seine Gabel und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit ihm zusammengespeist, damit niemand merkt, dass er krank ist; und wie ich bald darauf meinen anderen Bruder gepflegt habe, der so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bett gegessen, und die Spuckschale stand immer auf dem Tisch und war offen (Grausen).... und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt, und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen. Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tisch, wenn ich esse, und da ekelt es mich noch immer.“ Ich räumte mit diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie 17 Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuss des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den Anderen wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk empfohlen wurde,

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/75>, abgerufen am 28.04.2024.